28 November 2022 – Interview

«Das Übersetzen ist wie eine Heimat für mich.»

Die Übersetzerin Minya Lin hat im Übersetzerhaus Looren an der Übertragung von Stephan Thomes neuem Roman Pflaumenregen gearbeitet. Der deutschsprachige Roman verknüpft gekonnt eine Familiengeschichte mit der Geschichte Taiwans. Das Land ist aufgrund der Besetzung durch Japan und China vielsprachig, was für die Übersetzung einige Herausforderungen bereithält. Minya Lin hat mit der Übertragung dieses Buches auch eine Reise in ihre Vergangenheit angetreten. 

Minya, Stephan Thomes neuer Roman Pflaumenregen erzählt anhand einer Familiengeschichte auch die Geschichte Taiwans. Du stammst selbst aus Taiwan. Was hast du für einen Bezug zu diesem Land? 

Ich nenne Taiwan stets mein «Heimatland», aber dieser Begriff wird für mich immer unklarer. Ich habe länger im Ausland gelebt als in Taiwan, und im Ausland frage ich mich oft, wo mein Heimatland eigentlich ist…

Was ist denn Heimat für dich?

Meine Heimat ist da, wo ich mich aufhalte und wohl fühle. Ich bin nicht patriotisch und habe viele Heimaten. Ich habe zweieinhalb Jahre in Japan gelebt, zehn Jahre in Holland und etwa neun Jahre in Deutschland. Seit zwei Jahren lebe ich nun in Budapest. Aber auch hier in der Schweiz, in Looren, fühle ich mich zuhause. Die Schweiz habe ich gleich bei meinem ersten Besuch in mein Herz geschlossen! Ich mag die Berge – in der Mitte Taiwans, wo ich herkomme, gibt es nur hohe Berge und Bäume.

Sprichst du alle Sprachen deiner Aufenthaltsländer?

Ja, ich spreche Japanisch, Holländisch und Deutsch. Seit ich in Budapest lebe, bemühe ich mich, auch Ungarisch zu lernen, doch es ist sehr schwierig. Ich habe aber noch nicht aufgegeben. Ich möchte die Sprache jedes Landes, in dem ich lebe, lernen. 

Hast du noch Familie in Taiwan?

Ja, meine Familie und die meisten meiner Freunde leben in Taiwan. Wir haben engen Kontakt durch die Sozialen Medien. Früher bin ich alle zwei Jahre zurückgereist, aber wegen der Pandemie war ich nun schon vier Jahre nicht mehr da. Ich sage «zurück», aber eigentlich stimmt das nicht ganz… Vielleicht meine ich «zurück in die Vergangenheit». Ich war 25 Jahre alt, als ich Taiwan verliess. Dort hatte ich Psychologie studiert und wollte dann mein Studium in Deutschland fortsetzen. Als Psychologin habe ich aber nie gearbeitet. Ich interessiere mich für Menschen und ihre Geschichten. Diesbezüglich sind Literatur und Psychologie verwandt. In den Beruf der Übersetzerin bin ich dann hineingerutscht und geblieben.

Weshalb hast du dich entschieden, den Roman Pflaumenregen zu übersetzen?

Stephan Thome hatte mich angefragt, weil wir bereits an seinem letzten Roman Gott der Barbaren für die Übersetzungskorrektur zusammengearbeitet hatten. Pflaumenregen verknüpft auf subtile Weise eine Familiengeschichte mit der Geschichte Taiwans von 1940 bis in die Gegenwart. Das ist die Zeit meiner Eltern und Grosseltern. Beim Lesen des Romans sind viele Erinnerungen in mir wach geworden. Es war wie eine Reise nach Hause. Der Vater im Roman lebt mit seiner Familie in den USA. Er unternimmt mit seinem Sohn eine Reise nach Taiwan, damit dieser seine Familie und das Land kennenlernt. Das war bei mir und meinen zwei Söhnen sehr ähnlich. Der jungen Generation fehlt der Bezug zu Taiwan. Irgendwann merken sie aber, dass sie auch ein Teil der taiwanesischen Familie sind.

Welchen Herausforderungen bist du bei der Übersetzung begegnet?

Die Sprache in diesem Roman ist eine grosse Herausforderung: Zum einen geht es darum, für den geschichtlichen Teil die passenden historischen Begriffe zu finden. Das ist eine Frage von Feinheiten, von Authentizität. Zum anderen werden in Taiwan verschiedene Sprachen gesprochen: Taiwanesisch, Japanisch, Chinesisch und auch Hakka, eine Gruppe von Dialekten. Von 1895 bis 1945 war Taiwan eine japanische Kolonie. In dieser Zeit sprach man in Taiwan vor allem Japanisch. Mein Grossvater war während dieser Zeit Angestellter der japanischen Regierung und hat ausschliesslich japanisch gesprochen. Viele Taiwaner sprechen es auch heute noch. In Thomes Roman spielt die japanische Kultur eine grosse Rolle. Gewisse Ausdrücke habe ich deshalb auf Japanisch übersetzt, statt auf Chinesisch. Aber ich muss diese Entscheidung noch mit dem Autor und den Lektoren besprechen. Thome hat am Ende seines Buches für diese Textstellen einen Index erstellt und die japanischen, chinesischen und taiwanesische Ausdrücke erklärt.

Du übersetzt Pflaumenregen ins Chinesische – weshalb nicht ins Taiwanesische?

Taiwanesisch ist eine ausschliesslich mündliche Sprache, und Bücher werden in Taiwan bislang nur auf Chinesisch publiziert. Mit der aktuellen Identitäts- und Demokratiebewegung gibt es zwar Bestrebungen, für den taiwanesischen Dialekt eine Schriftsprache zu finden. Aber es existiert noch keine einheitliche schriftliche Form. Manche benutzen dafür das lateinische Alphabet, andere übernehmen die alten chinesischen Schriftzeichen. Man versucht damit, sich nicht nur politisch, sondern auch kulturell von China abzugrenzen. Ich hoffe, ich werde eines Tages ins Taiwanesische übersetzen können. 

Der Roman schildert Taiwans Geschichte unter der Herrschaft Japans bis zum Zweiten Weltkrieg. Nach der japanischen Kolonisierung wurde Taiwan durch China verwaltet. Thome erzählt damit die Vorgeschichte der aktuellen Krise: China will Taiwan jetzt als Teil seines Staatsgebiets annektieren. Wie aktuell, wie brisant ist dieses Buch? 

Das Buch ist sehr aktuell! Ich hätte früher nie gedacht, dass China Taiwan angreifen würde. Aber heute ist die Frage nicht mehr ob, sondern wann. Taiwan ist wie eine Schachfigur im Machtkampf zwischen China und den USA. Es geht hier aber nicht wirklich um die Verteidigung der Demokratie, sondern um wirtschaftliche Interessen: Taiwan versorgt mit seinen Mikrochips massgeblich die USA und Europa. Ein Angriff auf Taiwan beträfe also die ganze Welt. Gäbe es diese wirtschaftlichen Interessen nicht, hätten die Chinesen Taiwan längst annektiert, da mache ich mir keine Illusionen.

Was ist das für ein Gefühl, mit dieser Bedrohung zu leben?

Diese Kriegsstimmung, die Bedrohung durch China, war schon in meiner Kindheit da. Wir mussten in der Schule regelmässig üben, wie wir uns im Falle eines kriegerischen Angriffs durch die Chinesen zu verhalten hätten, wo wir uns verstecken müssten. 
Heute ist mir klar, dass meine Angst an den Tatsachen nichts ändert. Die Welt dreht sich weiter – und sie geht unter! (lacht) Ich lebe im Hier und Jetzt und tue, was ich kann. Mein Sohn hat mich oft gefragt: Hast du keine Angst? Angst nützt nichts. Sie würde mein Leben bloss schwierig machen. Aber manchmal habe ich doch Angst um meine Familie, die in Taiwan lebt. 
Eine Aussensicht der politischen Verhältnisse gewann ich aber erst als ich ins Ausland zog. Seither bezeichne ich mich als Taiwanerin. Ich spreche zwar Chinesisch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich nicht zu China gehöre. 

Sehen das alle Taiwaner so?

Nein. Taiwan ist in dieser Frage gespalten. Das Verhältnis ist komplex. China nimmt nicht nur militärisch Einfluss, sondern es gibt viele wirtschaftliche Verflechtungen: China investiert in viele taiwanesische Unternehmen und viele Taiwaner arbeiten wiederum in China. Alle Kinder lernen bei uns in der Schule chinesisch, nicht unbedingt jedoch den taiwanesischen Dialekt. Dieser galt lange als Sprache der Unterschicht, und manche Eltern verboten deshalb ihren Kindern, taiwanesisch zu sprechen. Aktuell gibt es allerdings eine Gegenbewegung: Viele Taiwaner wollen ihre Muttersprache pflegen und fördern. Das Selbstbewusstsein ist gewachsen.

Deine Übersetzung erscheint auf Chinesisch in einem taiwanesischen Verlag. Ist es für den Verlag heikel, dieses Buch zu publizieren? 

Nein, das ist in Taiwan überhaupt kein Problem. Da gibt es keine Zensur wie in China. Aber es ist undenkbar, dass Stephan Thomes Roman in China publiziert werden wird. Der Autor befürwortet Taiwans Unabhängigkeit. Er kann nicht mehr nach China einreisen. 

Der Roman erhielt im deutschsprachigen Raum sehr positive Kritiken. Was denkst du, wie wird die Rezeption in Taiwan sein? 

Alle sind gespannt! Man wartet auf dieses Buch. Des bedeutet schon einen gewissen Druck für mich als Übersetzerin. (lacht)

Ein deutscher Rezensent spricht von der «psychologischen Tonspur» des Romans: Deutlich vernimmt er den «Sound der Scham», der das Leben der lange fremdbestimmten Taiwaner begleitet. Äussert sich die Geschichte der Taiwaner tatsächlich in ihrer Sprache? Und kennst du diesen «Sound der Scham»?

Ja, dieser zeigt sich in der Sprache der Hauptfigur Umeko. Sie ist innerhalb des Romans selbst eine Art Autorin. In Umekos Erzählsprache gibt es tatsächlich eine unterschwellige Stimmung der Scham, die sich durch den ganzen Roman zieht. Denn Umeko hat als Kind einen Menschen verraten, wenn auch unwissentlich, und damit seinen Tod verursacht. Sie konnte das nie aussprechen und schämt sich dafür. Thome hat damit eine Stimmung in Taiwan sehr präzise erfasst, die du mit den Augen einer Touristin nicht sehen kannst. Ich habe ihn dafür bewundert. Auch ich kenne diese Stimmung – dass über gewisse Dinge niemals geredet wurde.

Weshalb herrschte in Taiwan eine Stimmung der Scham?

Während des taiwanesischen Aufstands vom 28. Februar 1947 gegen die Chinesen wurden mehrere Tausend taiwanesische Zivilisten verhaftet oder hingerichtet. Darüber wurde in Taiwan später aber nicht mehr gesprochen. Es wurde aus der Geschichte ausradiert und als Kind wusste ich nichts davon.

Glaubst du, dass jemand von aussen das Thema der Scham besser sehen kann?

Stephan Thome lebt schon seit zwölf Jahren in Taiwan. Seine Frau ist Taiwanerin, von ihr hat er viel erfahren. Ohne die entsprechenden Kontakte hätte er den Roman so nicht schreiben können. Darüber hinaus hat Thome die Fähigkeit, eine Kultur in der Tiefe zu verstehen, auch die psychische Dimension der Menschen, dieses vorherrschende Klima. Beim Lesen fühlte ich mich im Roman drin – nicht unbedingt in einer Figur – sondern in einem psychischen Zustand. Viele der beschriebenen Gedanken hatte ich auch, aber ich hatte sie nie jemandem verraten. Thome hat das in seinem Roman an die Oberfläche gebracht. Das hat mich überrascht. 

Was macht dir an der Übersetzung besonders Freude?

Ich sehe durch Thomes Roman Dinge in Taiwan, die ich früher nie gesehen hatte. Es weckt in mir die Lust, wieder nachhause zu reisen! Es ist auch eine Zeitreise für mich, in die Vergangenheit, und es weckt erneut die Frage, was Heimat für mich bedeutet. Ich glaube, Stephan Thome ist wie ich ein Suchender, ein Grenzgänger zwischen den Kulturen. Das ist für mich sehr spannend.

Hat die Übersetzung dieses Romans deinen Heimatbegriff verändert?

Nein. Aber das Übersetzen ist auch eine Heimat für mich. Es ist, was ich tue. Seit fast dreissig Jahren. Ich bewege mich immer zwischen zwei Sprachen, zwei fremden Kulturen. Ich kann nicht sagen, in welcher ich mich wohler oder mehr zuhause fühle, das ändert. Aber für meine Kinder war das schwierig. Sie sind in Holland aufgewachsen und besuchten eine Schule mit englischer Unterrichtssprache. Ich versuchte anfangs, ihnen auch Chinesisch beizubringen. Das war aber schwierig für sie, weil es nicht zu ihrer Umgebung gehörte. Das machte mich traurig. Meine Kinder waren jedoch der Ansicht, dass sie ihre Muttersprache selbst wählen können. Sprache kann auch eine Heimat sein. Und die kann man sich aussuchen. 

Interview und Fotos: Janine Messerli



Minya Lin, 1966 in Taiwan geboren, hat in Taipei und Trier Psychologie und in Saarbrücken Kunstgeschichte studiert. Sie übersetzt hauptsächlich Kinder-und Jugendliteratur aus dem Deutschen sowie aus dem Niederländischen ins Chinesische. Sie übersetzte Bücher von Jürg Schubiger, Kirsten Boie, Bart Moeyaert und Toon Tellegen ins Chinesische. Bei ihrem ersten Aufenthalt im Übersetzerhaus Looren im Jahr 2015 übertrug sie Johanna Spyris Heidi ins Chinesische. Heute lebt sie in Budapest.

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