23 August 2024 – Interview

Der Übersetzer von Finnegans Wake braucht einen Hang zum inspirierten Blödeln

Ulrich Blumenbach im Garten des Übersetzerhauses Looren © Anja Kapunkt
Ulrich Blumenbach im Garten des Übersetzerhauses Looren © Anja Kapunkt

Mit seinem Auftrag, James Joyces Finnegans Wake ins Deutsche zu übersetzen, geht Ulrich Blumenbach einer Aufgabe nach, die viele für unmöglich halten. Während seines Aufenthalts im Übersetzerhaus Looren haben wir uns mit ihm darüber unterhalten, wie eine solche Übersetzung trotz aller Schwierigkeiten Form annimmt.

Interview: Julia Willers

Ulrich Blumenbach, du verbringst momentan deinen ersten Arbeitsaufenthalt im Übersetzerhaus Looren. Wie kommt es, dass du als langjähriger Freund des Hauses erst nach fast 20 Jahren einen Aufenthalt hier verbringst?

Es gab vor Entstehung des Übersetzerhauses Looren die Gründungsgruppe, die mich zu Rate gezogen hat, und anschliessend war ich acht Jahre lang im Vorstand, weshalb ich nicht von den Arbeitsaufenthalten profitieren konnte. Allerdings war ich bei einem Workshop zur Ulysses-Überarbeitung, zu einem Lyrik-Seminar und zu einer Vice-Versa-Werkstatt bereits hier. Ausserdem besuche ich regelmässig die Loorentage im Herbst.

Kannst du mir etwas über das Übersetzungsprojekt erzählen, das du nach Looren mitgebracht hast?

Ich übersetze Finnegans Wake für den Suhrkamp Verlag. Dieses Projekt wird mich bis mindestens 2027 begleiten. Dass ich so lange an dieser Übersetzung arbeite, liegt in der Natur des Textes, denn Joyce schreibt eine unheimlich vieldeutige Prosa. Auf allen Ebenen verschmilzt er Wörter miteinander, die dann mehrere Bedeutungen haben, je nachdem, wie du sie anschaust. Joyces Wortspiele sind oft sogenannte Kontranyme, sie verschmelzen gegensätzliche Bedeutungen. Ein Beispiel wäre lovelinoise, in dem loveliness und noise verschmelzen – der Krach macht die Lieblichkeit kaputt. Das konnte ich im Deutschen durch Rohmantik ansatzweise rekonstruieren: Eine rohe Situation ist wahrscheinlich gerade nicht romantisch. Oder auch Freind, in dem Freund und Feind eine Gestalt annehmen. Figuren verschmelzen miteinander und nehmen mehrere Identitäten an, und wie in menschlichen Träumen werden narrative Elemente und kleinste Handlungsebenen immer wieder in neuen Versionen erzählt. Ausserdem schreibt Joyce unheimlich lange Sätze, die oft syntaktisch nicht aufgehen. Du glaubst, du kannst durch seine Mäandersätze durchlavieren, aber sie gehen nicht auf, irgendwo fehlt ein Anschluss oder es sind, wie du plötzlich merkst, Sätze ohne Verb, die nicht minimal die Anforderung an einen Satz erfüllen. Joyce hat unendlich viel biografisches, literarisches und geschichtliches Wissen, auch über die Geschichte Irlands, reingestopft, das auf allen Anspielungsebenen mitklingt. Jede Leserin wird etwas anderes im Text finden, je nachdem, mit welchem Wissen sie dem Text begegnet und was er in ihr auslöst.

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Finnegans Wake

Das Graduiertenkolleg Europäische Traumkulturen der Universität Saarland beschreibt James Joyces (1882-1941) Finnegans Wake folgendermassen:

«Das Buch dürfte wohl zu den legendärsten Büchern der europäischen Literaturgeschichte zählen – der Text setzt sich aus Dutzenden von Sprachen zusammen, entzieht sich vereinfachenden Deutungen und gilt ganz nebenbei als unübersetzbar. In der einschlägigen Forschung scheint der Minimalkonsens darin zu bestehen, dass es sich bei dem erstmals 1939 erschienenen Roman um einen gewaltigen nächtlichen Traum handle, bei dem sich der 'Tagesrest' des Träumenden mit Versatzstücken der gesamten Menschheitsgeschichte zu einer vielsprachigen und mehrschichtigen Collage vermischt.»

Quelle

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Looren ist ein besonderer Ort, an dem sich Geschichten und Menschen aus allen Ecken dieser Welt begegnen. Was bringt dir der Aufenthalt mit diesem Text?

Das kann ich so, am Anfang meines Aufenthalts, noch gar nicht sagen. Ich kann hier einfach in Ruhe arbeiten, was momentan das Wichtigste ist. Ich erhoffe mir viel vom Austausch mit den Kolleginnen, die ich hier treffe. Ihre Spracherfahrung und Sprachen sind sehr wichtig. Beim Essen haben wir mal nur Zungenbrecher ausgetauscht. Ein polnischer Übersetzer hat uns einen Zungenbrecher erzählt, der für uns noch verknoteter geklungen hat als ein normaler polnischer Konversationssatz. Wir waren in Anbetracht des phonetischen Konstrukts komplett aufgeschmissen. Solche Spracherfahrungen sind immer eine Bereicherung, da Joyce in Finnegans Wake 40 oder 60 verschiedene Sprachen reingewoben hat. Er hat auch das Englische so verballhornt, dass einzelne Sprachen im Cluster eine halbe Seite auftauchen, ob das nun Ungarisch, irgendein malaysischer Dialekt, eine afrikanische Sprache oder Farsi ist…

Wie gehst du mit diesen Passagen um?

Ich muss versuchen, die Vielsprachigkeit in der Übersetzung zu erhalten. Wenn Joyce zum Beispiel ein persisches Wort mit einem englischen überblendet und verballhornt, ist mein Ziel, etwas Deutsches zu finden, das sich ähnlich verschmelzen lässt und einen ähnlichen Effekt erzeugt. Das fremdsprachige Cluster muss erhalten bleiben, und manchmal ist die Vielsprachigkeit für die Erzählung relevant. Wenn es beispielsweise um irgendwelche persischen Mythen geht, kann ich in der Übersetzung nicht mit einer anderen Sprache weiterarbeiten.

Ein sprechendes Beispiel für die Herausforderungen von Finnegans Wake ist die Geschichte der kalifornischen Lesegruppe, die 28 Jahre für die Lektüre brauchte…

... und als sie am Ende angekommen waren, haben sie wieder von vorne angefangen! In der Joyce-Stiftung in Zürich gibt es auch solche Lesegruppen zu Ulysses und Finnegans Wake, die der Stiftungsgründer Fritz Senn vor circa 40 Jahren eingerichtet hat. Auch die fangen immer wieder von vorne an, sobald sie fertig sind.

Wie ist es zu deiner Joyce-Liebe gekommen?

Das geht alles sehr weit zurück. Ich habe kurz nach der Schulzeit angefangen, Joyce zu lesen. Es war eine Liebe auf den ersten Blick, für die ich sogar die Universität gewechselt habe, damit ich in Berlin bei einem der wenigen Anglisten in Deutschland studieren konnte, der Joyce und speziell Finnegans Wake gelehrt hat. Jedoch haben wir in seinem Oberseminar trotz der Hilfsmittel und Kommentare nur wenig verstanden. Daraus ist eine Studenten-Lesegruppe entstanden, in der wir mit Referaten und viel Vorbereitung uns durchs ganze Buch gearbeitet haben, wobei wir immer noch nicht viel verstanden hatten. Einer von uns meinte, wir sollten versuchen, ein paar Zeilen zu übersetzen. Beim Übersetzen musst du jedes Wort und jeden Buchstaben berücksichtigen, und so dachten wir uns, dass wir uns nicht um irgendetwas herummogeln könnten. Tatsächlich ist es uns gelungen, die letzten neun Seiten des Buchs zu übersetzen, die in einer Anthologie beim Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurden. Somit entstand der Kontakt zu Fritz Senn von der Zürcher Joyce-Stiftung. Als ich mit meiner Frau in die Schweiz gezogen bin, haben Fritz und ich ein Übersetzertreffen gegründet, das in den Räumlichkeiten der Joyce Stiftung stattfindet.

Erfüllst du dir einen Studententraum, wenn du jetzt das ganze Buch übersetzen kannst?

Das ist tatsächlich ein Traum, den ich am Anfang gar nicht zu träumen gewagt hatte. Als ich Übersetzer geworden bin, habe ich nie damit gerechnet, dass ich einmal Finnegans Wake übersetzen könnte. Der Lektor und Programmleiter des Suhrkamp Verlags hat mich bei einem informellen Gespräch gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Finnegans Wake zu übersetzen. Zuerst fiel ich hinten über und brauchte einen Moment, um mich zu fassen. Ich hätte sofort begeistert zugesagt, aber das war nur der Anfang einer langen Geschichte, denn meine Frau war ursprünglich strikt dagegen. Sie sagte, sie hätte mich zwei Mal an dicke Bücher verloren, an denen ich jahrelang übersetzt habe, und sie hätte keine Lust, das noch ein drittes Mal durchzumachen. Als unsere Kinder erwachsen waren und aus dem Haus gingen, hat sie mich dann aber doch dazu ermutigt, Finnegans Wake anzupacken.

Ist es die erste deutsche Übersetzung von Finnegans Wake?

Nein, 1993 ist eine Übersetzung von Dieter Stündel erschienen, die ihre eigene Vorgeschichte hat. Stündel war sehr stark von Arno Schmidt und seinem Verständnis von Finnegans Wake beeinflusst. Arno Schmidt hat in seinen Essays in den 50er und 60er Jahren sehr vereinfachend gesagt, Finnegans Wake sei die Aufarbeitung eines Konflikts zwischen James Joyce und seinem Bruder Stanislaus. An anderer Stelle hat er behauptet, das ganze Buch sei ein 600 Seiten langer Unterleibswitz, eine einzige ausgedehnte Zote. Beides ist viel zu kurz gegriffen, denn es sind zwar viele Zoten drin, aber nicht nur. Leider hat Dieter Stündel das Werk genauso reduktiv übersetzt und hat fäkale und genitale Witze eingebaut, wo es nur ging. Damit hat er die anderen Inhaltsebenen des Buchs sträflich vernachlässigt, to put it mildly. Als die Übersetzung 1993 auf den Markt kam, gab es in der Anglistik nur Aufschreie, wie man ein solches Zerrbild überhaupt veröffentlichen könne. Stündels Übersetzungsansatz war völlig misslungen.

Jetzt versuchst du, dem Buch gerecht zu werden.

Genau, das Ziel ist, dem Buch gerecht zu werden und seinen ästhetischen Anspruch sowie die Fülle seiner Klänge aufzuzeigen – es ist ein ungeheuer musikalisches Buch. Die Prosodie entwickelt einen eigenen Flow und hat einen Klang, der dich mitreisst. Joyce hat hunderte von Opernarien, Volksliedern, Revolutionssongs aus den Befreiungskämpfen gegen England, Schlager und Music-Hall-Songs aus dem 19. Jahrhundert reingewoben. Oft sind sie verballhornt, aber sie kommen auch im Originalwortlaut vor. Es ist eine meiner Prioritäten, die Musikalität des Werks in der deutschen Übersetzung aufklingen zu lassen.

Joyce ist zwar ein highbrow Autor, aber ich finde es immer ein bisschen schade, ihn darauf zu reduzieren. Ulysses und Finnegans Wake sind schwere, aber auch ungeheuer witzige Bücher. Joyce ist ein grosser Sprücheklopfer. Er war stark beeindruckt von seinem Vater, der ein typischer Dubliner Kneipengänger war und diese spezifischen Konversationsrituale sind in beiden Büchern sehr präsent. Du machst einen Spruch, ich versuch noch eins draufzusetzen und dann machst du wieder einen Spruch – das ist kein Gegeneinander, sondern ein konversationelles Miteinander, man blödelt einfach rum. Fritz Senn hat gesagt, der Übersetzer von Finnegans Wake muss einen Hang zum inspirierten Blödeln haben und es stimmt, du musst manchmal Sprüche klopfen und Nonsens produzieren. Joyce ging genauso vor. Ich würde der Öffentlichkeit gerne diese Demutshaltung vor dem Klassiker auf dem Sockel nehmen, denn es sind komplexe und komische Bücher zugleich.

Bei all diesen Herausforderungen nehme ich an, dass Finnegans Wake momentan dein Hauptfokus ist.

Ich mache nichts anderes mehr, ich sage auch Workshops oder Vorträge ab, weil sie so viel Arbeitszeit und Energie kosten. Ich arbeite inzwischen in die Abende rein, was ich früher nicht machte. Auch mein Privatleben droht zu verschwinden, weil die Arbeit dermassen komplex ist. Ich muss so viel berücksichtigen, dass ich für diese Übersetzung eine eigene Herangehensweise entwickelt habe.

Wie funktioniert die?

Das Buch ist unterteilt in 17 Kapitel, und zu jedem schreibe ich zuerst einen Kommentar. Den muss ich nicht allein schreiben, denn es gibt in der Joyce-Philologie unendlich viele Hilfsmittel. Insbesondere ein Band ist hilfreich, Annotations to Finnegans Wake, in dem Roland McHugh etwa alle 10 Jahre das gesamte Wissen der Joyce Forschung komprimiert. Seine Annotationen sind seiten- und zeilenidentisch mit dem Original, das heisst, die Erläuterung zu Zeile 17 auf Seite 35 im Original steht auch im Kommentarband in der Zeile 17 auf Seite 35. Diesen Kommentar digitalisiere und ergänze ich mit meinen eigenen Fussnoten, in denen ich manchmal schon deutsche Entsprechungen suche. Nachdem ich den Kommentar zu einem Kapitel geschrieben habe, beginne ich mit der Übersetzung, wofür ich zuerst mit einem alten Füllfederhalter schreibe. Ich versuche bei meiner linearen Übersetzung Joyces ungeheuer ausgefuchste und detaillierte Leitmotivik einzubauen. Es gibt hunderte von Motiven, die in allen möglichen Verballhornungen und Variationen im ganzen Buch auftauchen. Hier ist es mir wichtig, den Überblick zu behalten, denn die Motive sollen auch in der Übersetzung als solche erkennbar sein. Auch da muss ich die Arbeit nicht allein machen, in den 1960ern hat Clive Hart alle diese Motive in seinem Buch Structure and Motive in Finnegans Wake aufgelistet. Ich muss versuchen, Übersetzungen zu finden, die für deutsche Leserinnen und Leser möglichst das Grundmotiv anklingen lassen und Echo-Effekte erzeugen.

Kannst du dafür ein Beispiel geben?
Ein Beispiel für die Motive, die Finnegans Wake durchziehen, wäre der Dubliner Stadtteil Chapelizod, in dem (vielleicht) die Kneipe steht, in der (vielleicht) ein Grossteil der (mutmasslichen) Handlung des Buchs stattfindet. «Chapelizod» wird oft verballhornt und variiert, romanisiert, die Silben werden vertauscht und neu kombiniert: «churpelizod» wird auf Deutsch «Knorpellizod», «Isitachapel» wird «Issyskapelle», «chapel exit» wird «Chapeaulexik», «Ship‑le‑Zoyd» wird «Schipper-Süd», «sheep was looset» wird «Schäfchen eilet». Die wörtliche Bedeutung tritt bei diesen Motiven in den Hintergrund, wichtiger ist, dass ihr Echocharakter zu erkennen ist. Ich kann im Deutschen also mit den Möglichkeiten spielen, die die Klangbilder von Joyces Verzerrungen des Ursprungsworts mir anbieten.

Danke, Ulrich, für das Gespräch.

Ulrich Blumenbach ist seit 1993 freischaffender Literaturübersetzer aus dem Englischen und amerikanischen Englischen ins Deutsche und spezialisiert auf sprachlich komplexe, durch Sprachwitz und Verwendung mehrdeutiger Neologismen auffallende Texte. Für seine Übersetzungen von Arthur Miller, Stephen Fry, Jack Kerouac, den Gedichten von Dorothy Parker sowie David Foster Wallaces Unendlicher Spass und Joshua Cohens Witz wurde er u.a. ausgezeichnet mit dem Paul-Celan-Preis, dem Basler Kulturpreis und dem Zuger Übersetzer-Stipendium. Zudem engagiert er sich in verschiedenen Verbänden und Organisationen für die Interessen von Literaturübersetzern und Literaturübersetzerinnen. Im Juli 2024 arbeitete er als Max-Geilinger-Stipendiat im Übersetzerhaus Looren an seinem mehrjährigen Projekt, der Übersetzung von James Joyce Finnegans Wake.

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Interview: Julia Willers

Schwarz-Weiss-Porträt: © Anja Kapunkt für das Projekt Plainly Visible http://www.plainly-visible.org

Foto von Ulrich mit James-Joyce-Büste: © Sibylle Brändli Blumenbach

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