29 September 2017 – Interview

«Seldwyla ist überall»

Interview mit Nino Osepashvili, Übersetzerin aus Tiflis, Georgien, die Gottfried Keller ins Georgische überträgt. 

Nino Osepashvili war im September Gast im Übersetzerhaus Looren. Am 27. September erzählte sie im Rahmen von Read my lips im Zürcher Kulturzentrum Kosmos über ihre Arbeit.

Du übersetzt Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes. Wie bist du auf diesen Text gekommen und was interessiert dich daran? 
Bislang übertrug ich hauptsächlich moderne deutschsprachige Autoren, Kurzprosa und auch Fachtexte. An Gottfried Kellers Erzählung gefällt mir, dass sie lustig und tiefsinnig zugleich ist. Ausserdem wollte ich erfahren, wie es ist, einen Klassiker zu übersetzen und wie sich das von der Übersetzung moderner Literatur unterscheidet. Ich wollte aber nicht gleich einen dicken Roman übersetzen, sondern etwas Kürzeres.

Welche Unterschiede zur modernen Literatur sind dir aufgefallen bei der Übersetzung dieses Klassikers? 
Die Sprache ist anders, die Wortwahl ist gemessener. Es wirkt als ob Gottfried Keller jedes Wort mit Bedacht gewählt hätte. Es ist eine Art „gesättigte Sprache“. Mir scheint, moderne Autoren haben einen freieren Umgang mit der Sprache. Ich mag anspruchsvolle Texte. Aber man trägt auch eine grosse Verantwortung, wenn man einen Klassiker übersetzt.

Was war für dich die Herausforderung bei der Übersetzung? 
Kellers Ironie und Humor sind die grösste Herausforderung. Es geht nicht darum, einfach an bestimmten Stellen Ironie und Humor einzuflechten. Vielmehr zieht sich beides durch den ganzen Text hindurch. Die Moral der Geschichte entfaltet sich auf feine Art zwischen den Zeilen.

Der Text ist 150 Jahre alt. Welches sprachliche Register hast du für die georgische Übersetzung gewählt?
Der Text hinterlässt nicht den Eindruck, als ob er vor 150 Jahren geschrieben worden wäre. Es ist ja ein Merkmal von Klassikern, dass sie nicht altern, deswegen werden sie von Verlagen auch gerne wieder aufgelegt. Es gibt natürlich schon Wörter, die man heute nicht mehr brauchen würde. Ich versuche sie aber nicht in eine ganz moderne Sprache zu transferieren, sondern einen neutralen Ton zu finden.

Wer ist das Zielpublikum deiner Übersetzung?
Die Kenner der klassischen deutschsprachigen Literatur werden das sicher lesen. Aber mich würde es freuen, wenn auch einfach Literaturliebhaber und vor allem Jugendliche die Erzählung lesen. Je mehr Altersgruppen ich erreichen kann, desto besser!

Die Leute von Seldwyla spielt in der Schweiz und als Schweizerin erkennt man viel Landestypisches. Wie gehst du damit bei der Übertragung ins Georgische um?
Es gibt eine Einleitung des Autors, wo er über Leserreaktionen auf die Publikation der ersten fünf Erzählungen der Leute von Seldwyla berichtet. Manche Leser hätten sich oder besser ihre Stadt in Seldwyla wiedererkannt und wollten vom Autor wissen, ob er in diesen Erzählungen über sie schreibe. Man weiss natürlich nicht, ob das eine wahre Geschichte ist. Gottfried Keller hielt sich diesbezüglich bedeckt. Aber ich denke, Seldwyla ist überall. Das lässt sich übertragen auf die ganze Welt, also auch sehr gut auf Georgien.

Du bist im Rahmen von Read my lips in Zürich öffentlich aufgetreten. Übersetzer arbeiten meist im stillen Kämmerlein. Wie ist es für dich, auf der Bühne über deine Arbeit zu erzählen?
Ich habe wenig Erfahrung damit und habe bisher nur ein paar Mal aus meinen Texten vorgelesen. Ich finde solche Anlässe aber sehr wichtig. Ich teile zwar die Ansicht, dass die Werke der Übersetzer für sich sprechen, aber in unserer modernen Zeit haben wir Übersetzer auch eine Vermittlerrolle. Wenn ich den Text in der Öffentlichkeit präsentiere, werden die Geschichten für die Leser lebendig.

«Ich teile zwar die Ansicht, dass die Werke der Übersetzer für sich sprechen, aber in unserer modernen Zeit haben wir Übersetzer auch eine Vermittlerrolle.»

Wie ist es für dich, im Übersetzerhaus Looren zu arbeiten?
Zu den modernen Autoren hatte ich jeweils direkten Kontakt. Einen Autor zu übersetzen, der vor 150 Jahren gelebt hat, ist eine neue Erfahrung für mich. Im Übersetzerhaus Looren in Wernetshausen bin ich aber in der Nähe von Gottfried Kellers Lebensort. Das ist ein schönes Gefühl!

Nino Osepashvili ist freischaffende Übersetzerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Übersetzen und Soziologie an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der staatlichen Universität in Tiflis.

Interview und Foto: Janine Messerli, Übersetzerhaus Looren

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