Konstruieren mit Verlust
Der deutsche Übersetzer und Lyriker Jonis Hartmann arbeitete im Rahmen des Lyrik-Seminars im Übersetzerhaus Looren an Haiku des afroamerikanischen Autors Richard Wright. Dieser schrieb in seinem letzten Lebensjahr in einer grossen persönlichen Krise über 4000 Haiku und hat 800 davon veröffentlicht. Im Interview lässt uns Jonis Hartmann eintauchen in seine Übersetzung dieses besonderen Werks.
Wie war es für dich, eine Woche lang in der Gruppe an Gedichten zu arbeiten?
Eine grosse Bereicherung! Es waren anstrengende, aber sehr anregende Tage. Ich hatte schon einmal an einer Übersetzerwerkstatt teilgenommen, da sprachen wir fast nur über Prosa, und ich vertrat das einzige Lyrikprojekt. Da ich ausschliesslich Lyrik übersetze, war es nun ergiebig, mich gemeinsam mit anderen eine Woche nur mit Lyrik zu beschäftigen. Ich habe für mein Projekt die Inputs bekommen, die ich gebraucht habe.
Dein Projekt ist ein besonderes: Es handelt sich um die Haiku von Richard Wright. Der afroamerikanische Autor ist eigentlich nicht als Lyriker bekannt. Wie bist du darauf gekommen, dich mit seiner Poesie zu beschäftigen?
Richard Wright ist vor allem für seine Romane und für seine politischen Schriften – er war unter anderem engagierter Kommunist und Bürgerrechtler – bekannt. Mit Native Son (1940) und Black Boy (1945) wurde Wright zum ersten afroamerikanischen Bestseller-Autor. Ich las die Neuübersetzung von Native Son (Sohn dieses Landes, übers. von Klaus Lambrecht), die bei Kein und Aber erschienen ist. Davon war ich begeistert. In den Begleittexten stand, Wright habe auch Gedichte verfasst. Das schien mir interessant, und ich wollte wissen, wie seine Lyrik aussieht. Ich habe kurz recherchiert und stiess sofort auf die Haiku.
Follow wherever
The treebranches make arches
In the torrid sun
Gehe immer dort,
Wo Zweige Bögen bilden
In der Sonnenglut
Warum hat sich Wright mit dieser Form beschäftigt?
Richard Wright fing erst in den letzten Monaten vor seinem Tod an, Haiku zu schreiben. Er war sehr krank, lebte in Frankreich im Exil, und seine Mutter und seine Schwester waren kurz nacheinander verstorben. In dieser persönlichen Krise widmete er sich einer Art Schreibritus und verfasste über 4000 Haiku. Für ihn war es zunächst eine Schreibübung, bei der eine mögliche Veröffentlichung noch keine Rolle spielte.
Zum Glück hat er die Haiku doch veröffentlicht. Was reizte dich an diesem Projekt?
Ja, zum Glück. Er hat von den über 4000 Gedichten 800 ausgewählt, durchnummeriert und diese unter dem bescheidenen Titel Haiku in einem Band veröffentlicht. Als ich das erste Mal darin las, war ich davon eingenommen. Ich fand es inspirierend, zu sehen, wie diese Stimme, die ich ja schon zu kennen glaubte, solche Haiku schreiben konnte. Ich wollte versuchen, sie zu übersetzen. Zunächst auch nur als Übung.
Merkt man den Haiku Wrights Verzweiflung an?
Die Spannung, die diesem Band innewohnt, besteht darin, dass man den Haiku die schwierigen Umstände des Entstehungsprozesses nicht anmerkt. Man sieht den Gedichten nicht an, wer sie geschrieben hat. Andererseits hat die Stimme Richard Wrights ihre Geschichte, und das ist für das Übersetzen eine Herausforderung.
Inwiefern?
Haiku sind eine minimalistische Form, und Wright beherrscht sie. Er evoziert mit einfachen Worten Bilder, die weitere Assoziationen hervorrufen. Wrights Biografie, die Südstaaten, spezifische Begriffe aus den USA (brownstone houses, the little toy shop etc.) tauchen immer wieder auf, vermischen sich mit Bildern aus dem ländlichen Frankreich, wo Wright gelebt hat. Als Übersetzer möchte ich die Bezüge erkennen und mir ihrer Subkontexte bewusst sein. In einem Haiku kommen beispielsweise weisse Magnolien vor. In der Werkstatt wurde angemerkt, dass dieses Bild an den Song Strange Fruit, den Billie Holiday bekannt gemacht hat, erinnere, der rassistische Lynchmorde thematisiert und ebenfalls in ein Bild setzt, der „seltsamen Frucht“ eben. Im Songtext spielen diese Magnolien eine zentrale Rolle. Wright schafft mit den Haiku einprägsame Bilder, die Bedeutungsräume öffnen.
Steep with deep sweetness,
O You White Magnolias,
This still torpid night!
Durchzieht zuckertief
O Weiße Magnolien
Die noch träge Nacht!
Mir kommen seine Haiku häufig wie Fotos vor.
Genau. Roland Barthes schreibt, ein Haiku sei eine ähnliche Geste wie die eines Kindes, das mit dem Finger zeigt und sagt: «Da!». Mehr Information gibt es nicht. Deshalb findet in einem Haiku kaum Wertung statt, es ist lediglich ein Bild. Aber alles Sonstige, was Wright zuvor geschrieben hat, schwingt natürlich mit.
Haiku kommen ursprünglich aus dem Japanischen und wurden im Westen als lyrische Form übernommen. Wie stehst du zur Verwendung dieser Form?
Der Umgang damit im Westen ist mitunter problematisch. Oft werden nicht Haiku verfasst, sondern lediglich deren Stimmung imitiert (etwa bei der Beat-Generation). Das Silbenschema wird nicht respektiert, es wird eine Art exotistisches Bild produziert. Im Grunde genommen sind es nur noch Dreizeiler. Die Fragilität, die für einen Haiku substanziell ist, geht verloren oder wird ignoriert. Das ist bei Wright ganz anders.
Hält Wright denn die Form strikt ein?
Ja, es gibt nur wenige Ausnahmen, wo er kleine Interjektionen wie «Oh» einsetzt. Das ist dann bewusst markiert und stimmig. Indem er die Form so streng einhält, tarnt er alles, was sich dahinter verbergen könnte und stellt nur das Bild in den Raum.
Was macht für dich einen guten Haiku aus?
Haiku sind ein Drahtseilakt. Die Form ist choreografiert: 3 Zeilen, 5 Silben, 7 Silben, 5 Silben. Wenn man das nicht einhält, funktioniert diese Lyrik nicht mehr. Zudem gibt es historische Entwicklungen, die den inhaltlichen Aufbau kontrollierten. Die Arbeit in der Werkstatt war für mich hilfreich. Meistens waren wir uns sofort einig, in welchen Haiku etwas noch nicht stimmte.
Welche spezifischen Schwierigkeiten ergeben sich beim Übersetzen von Haiku aus dem Englischen ins Deutsche?
Das Englische hat weniger Silben. Bei einer so reduzierten Form fällt das ins Gewicht. Deswegen ist von vornherein klar, dass es unmöglich ist, sämtliche Informationen zu transportieren. Man muss das Hauptbild erkennen und versuchen, es bestmöglich im Deutschen neu abzubilden. Aber es bleibt eine Näherung. Man könnte das «Konstruieren mit Verlust» nennen, und das finde ich als Schreibaufgabe reizvoll.
Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, aber das Übersetzen von Lyrik gilt ja ohnehin als Königsdisziplin des Übersetzens.
Für mich ist es eine schöne und wichtige Herausforderung, die sogenannten Sprachgrenzen immer wieder abzuschreiten, zu versetzen oder umzugestalten. Es muss Neues entstehen. Beim Übersetzen suche ich nach etwas, das vorher nicht da war. Etwas, das ich nicht sofort sehe. Dabei kann man scheitern, der Haiku kann nach links oder nach rechts kippen. Ins Klischee, ins Gebrauchte, ins Indifferente, in den Kitsch oder ins grob Unvollkommene. Geht man darauf aber geradeaus, also auf dem Drahtseil, geht man hinein ins Neuland!
Jonis Hartmann arbeitet als Autor, Übersetzer, Herausgeber und Organisator von Literaturveranstaltungen. Selbst Lyriker, übersetzt Jonis Hartmann v.a. Gedichte aus dem Englischen ins Deutsche. Zuletzt hat er Paul Bowles gesammelte Gedichte übersetzt und im zweisprachigen Band Next to Nothing / Fast nichts herausgebracht. 2020 wurde er vom Übersetzerhaus Looren mit einem Max Geilinger-Übersetzungsstipendium ausgezeichnet für seine Arbeit an der deutschen Übersetzung der Gedichte des Beat-Poetry-Mitbegründers und Spoken-Word-Performers Bob Kaufman, The ancient Rain und Solitudes crowded with Loneliness. Die Bände erscheinen auf Deutsch unter dem Titel Steinalter Regen und Einsamkeit bis übern Rand im Elif Verlag 2022.
Interview: Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren
Foto von Jonis Hartmann: Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren
Fotos Haiku: Beinecke Library, Twitter https://twitter.com/BeineckeLi...