31 March 2022 – Interview

Kreative Strategien gegen die Zensur

«Man kapituliert nicht einfach vor dem System», erklärt Ali Abdollahi im Gespräch. Foto: Mehrdad Sirusi
«Man kapituliert nicht einfach vor dem System», erklärt Ali Abdollahi im Gespräch. Foto: Mehrdad Sirusi

Zensur ist im Iran allgegenwärtig. Das hat Ali Abdollahi schon oft zu spüren bekommen, etwa mit seinen eigenen Gedichten oder bei der Übersetzung von Gottfried Kellers Novellen und Franz Hohlers Kurzgeschichten ins Persische. Im Gespräch gewährt uns der heute in Deutschland lebende iranische Übersetzer und Autor einen Einblick in das undurchsichtige System der Zensur und in einige der Strategien, die Autorinnen und Übersetzer entwickelt haben, um dieses zu umgehen.

Am 17. Mai 2022 ist Ali Abdollahi zusammen mit Hussein Mohammadi im Rahmen der Reihe Texte ohne Grenzen im Kulturmarkt Zürich zu Gast.

In deinem kürzlich erschienenen Lyrikband Wetterumschlag (Secession Verlag 2021) gibt es ein Gedicht mit dem Titel «Die Zensurbeamten». Darin heisst es:  


Sie 

sind erste und ernste Leser meiner Gedichte:

Sie finden Viren darin

die mich nie infiziert haben

und abgelegene Bedeutungen

die ich nicht hineingelegt habe

zur Immunisierung der Gesellschaft.

[...]


Wurde dieses Gedicht in dieser Form auch im Iran veröffentlicht?  

Es ist im Iran erschienen, aber ich habe dieses Gedicht über Zensur selbst zensiert. Ich musste den Titel ändern. Auf Persisch lautet er wörtlich «Andenken an meine ersten Leser». Das Gedicht selbst konnte ich so belassen, weil das unbestimmte «sie» vage genug ist, um durch die Zensur zu kommen.  

Das bedeutet, die Zensurbeamten verstehen nicht, dass sie damit gemeint sind?  

Nein. In der Lyrik kann man mit der metaphorischen und vagen Sprache einiges veröffentlichen. Es gibt Autorinnen und Autoren, die bewusst damit spielen und so abstrakt und offen schreiben, dass man nicht verstehen kann, was mit ihren Aussagen gemeint ist. Allgemein ist es so: Wenn der zuständige Zensurbeamte unsicher ist, wird der Text noch von weiteren Zensoren geprüft. Schliesslich geht es der Regierung darum, zu vermeiden, dass ein Text veröffentlicht wird und es dadurch zu öffentlichen Protesten kommt.  

Bedeutet das, die Autorinnen und Autoren haben nicht nur Angst vor den Zensurbeamten, sondern die Zensurbeamten fürchten sich auch vor einer möglichen Reaktion der religiösen Fundamentalisten?  

Genau. Alle sind gewissermassen Getriebene des Systems. Wenn ein Buch von den Fundamentalisten «entdeckt» und für problematisch befunden wird, kommt es zu Protesten. Das Buch muss dann vom Markt genommen werden.  

Ist Autoren und Übersetzerinnen bekannt, wer die Zensurbeamten sind?  

Nein, das weiss niemand so genau. Man vermutet, dass es sich oft um junge Mullahs handelt, die neben ihrem Studium an einer Religionshochschule für die Zensurbehörden arbeiten, oder um wenig bekannte Autoren, die der Regierung nahestehen. Man weiss auch, dass die Zensoren diese Arbeit meist nicht lange machen. Sie lesen so viele Bücher, dass sie sich früher oder später für Weltliteratur zu interessieren anfangen und offener gegenüber der westlichen Kultur werden. Irgendwann lassen sie zu viel durchgehen und müssen durch neue Beamte ersetzt werden.  

Ist einem beim Schreib- oder Übersetzungsprozess bereits bewusst, was zensiert werden könnte und was nicht?  

Nicht wirklich, das System ist sehr willkürlich. Es gibt keine definierte Liste mit Wörtern, die man nicht benutzen darf. Klar ist zum Beispiel, dass man alkoholische Getränke meist nicht explizit erwähnen kann. Wenn ich das Wort «Wein» wörtlich ins Persische übersetze, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach gestrichen. In einem solchen Fall kann man beispielsweise eine Weinsorte als Platzhalter verwenden. Die Zensurbeamten wissen nicht immer, was ein «Bordeaux» ist …  

Aber es lässt sich allgemein festhalten, welche Themen problematisch sind. Ich nehme an Alkohol, Sex, Religion, Politik …  

Natürlich entwickelt man ein gewisses Gespür für diese Themen. Aber manchmal werden Wörter zensiert, von denen man es nie erwartet hätte, genauso wird ab und an eine Textstelle stehengelassen, die einem beim Schreiben Sorgen bereitet hatte. Man kann sich seiner Sache nie sicher sein. Wenn ein Buch in der zweiten Auflage erscheint, muss der Text jeweils nochmals durch die Zensur, und es werden plötzlich Stellen gestrichen, die in der ersten Auflage unproblematisch schienen und nicht zensiert wurden. Dies geschieht insbesondere, wenn ein neuer Kulturminister sein Amt antritt.  

Wenn du im Iran schreibst und übersetzt, weisst du, dass immer der Zensurprozess folgen wird. Zensiert man sich dadurch automatisch selbst?  

Es gibt ein Art Schere im Kopf, die dich beim Übersetzen und auch beim Schreiben beeinflusst. Man kapituliert aber nicht einfach, sondern entwickelt Strategien, wie man trotzdem das rüberbringen kann, was für den Text wichtig ist. Eine Strategie kann zum Beispiel sein, dass man für alkoholische Getränke, für bestimmte Körperteile oder sexuelle Handlungen bewusst metaphorische, archaische oder wenig gebräuchliche Ausdrücke verwendet. Wörter, die so alt sind, dass sie die Zensurbeamten manchmal nicht verstehen. Diese Strategie habe ich schon oft eingesetzt, und es hat fast jedes Mal funktioniert. Eine andere Möglichkeit ist, wie ich es bei der Lyrik schon angesprochen hatte, Dinge nicht konkret, sondern mit einer Metapher auszudrücken. So kann man auch explizite Liebesszenen durch die Zensur bringen!  

Gibt es auch Autorinnen und Übersetzer, die die Zensur ignorieren und einfach schreiben, was sie wollen?  

Einige tun das, ja. Aber im Iran muss jedes Buch durch die Zensur – sogar Kochbücher! Wenn man etwas bei einem Verlag veröffentlichen will, geht das nie ohne die Hürde der Zensur. Will man das System umgehen, muss man im Ausland oder im Internet publizieren. In Europa gibt es einige iranische Verlage, die Bücher unzensiert veröffentlichen.  

Kommen diese Bücher dann über den Schwarzmarkt in den Iran?  

Ja. Manchmal reicht es auch, wenn ein einziges Exemplar ins Land gelangt. Es kann dann kopiert und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. Früher – also noch vor den Taliban – wurden manche verbotene Bücher in Afghanistan gedruckt und dann in den Iran geschmuggelt oder illegal wiederveröffentlicht. So kam zum Beispiel die Übersetzung von Nabokovs Lolita ins Land.  

Hast du schon mal ein eigenes Buch oder eine Übersetzung auf dem Schwarzmarkt veröffentlicht?  

Ich habe eigentlich fast alle meine Übersetzungen und Gedichte bei offiziellen Verlagen publiziert. Mein erster Gedichtband wurde komplett verboten. Ich habe dann drei Jahre gewartet, bis ein neuer Kulturminister im Amt war, den Titel geändert und das Buch nochmals eingereicht. Es konnte veröffentlicht werden. Einige Gedichte, die über die Jahre aus meinen Gedichtbänden gestrichen wurden, habe ich auf Deutsch nachgedichtet und nun in Wetterumschlag veröffentlicht.  

Lass uns über eines deiner Übersetzungsprojekte sprechen. Du hast unter anderem den Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla von Gottfried Keller übersetzt. Romeo und Julia auf dem Dorfe ist eine davon. Da geht es um verbotene Liebe, um Alkohol, Gewalt und am Ende um Selbstmord …  

Diese Erzählung konnte ich leider nicht veröffentlichen! Ich hatte für Kellers Novellen ein klassisches und gehobenes Persisch gewählt, in erster Linie wegen des Originaltons, aber auch in der Hoffnung, dass die Zensurbeamten dadurch der Sinn entgehen und sie den Text in meiner Übersetzung so stehenlassen würden. Das war eine bewusste Entscheidung. Aber am Ende steht der Freitod des Paares, das haben sie natürlich nicht übersehen. Die Zensoren verlangten, dass das Ende geändert wird. Aber ich weigerte mich. Es war mir lieber, den Text mit einer solch einschneidenden Änderung nicht zu publizieren.  

War der Selbstmord am Ende der Novelle das einzige Problem? Die anderen Themen stellten kein Hindernis dar?  

An manchen Stellen habe ich – analog zu Kellers Erzählstil – alte persische Wörter eingesetzt, die wurden nicht verstanden und deshalb auch nicht zensiert.

Du hast erwähnt, dass eine Veröffentlichung mit einem anderen Ende möglich gewesen wäre. Gibt es also einen gewissen Verhandlungsspielraum, den man als Übersetzer gegenüber den Zensurbehörden hat?  

Ja, wenn es die Umstände erlauben, kann bis zu einem gewissen Grad mit ihnen verhandeln. Also nicht mit dem Zensurbeamten selbst – den bekommt man nie zu Gesicht – aber mit einem Assistenten in einer Art Vorzimmer. Es ist aber auch eine persönliche Entscheidung, ob man sich darauf einlassen will. Abgesehen von kleinen Änderungen auf der Wortebene, die für die Handlung nicht zentral sind, akzeptiere ich keine Zensur. Lieber veröffentliche ich einen Text nicht, als mit den Behörden verhandeln zu müssen. Ich möchte mit diesen Leuten überhaupt nichts zu tun haben!  

Du hast bereits auf den Unterschied zwischen Prosa und Lyrik hingewiesen. Laufen Gedichte weniger Gefahr, zensiert zu werden als erzählende Prosa?  

Das Vage und Metaphorische der Lyrik macht es schwieriger, den genauen Sinn eines Gedichts zu identifizieren; es gibt mehr Interpretationsspielraum. Daher ist bei Poesie die Gefahr tatsächlich kleiner, mit den Behörden in Schwierigkeiten zu geraten. Auch theoretische oder philosophische Texte haben es leichter und werden weniger streng zensiert, weil sie als unveränderbar angesehen werden.  

Übersetzt du deshalb mehr Lyrik und Philosophie als Belletristik?  

Ja, weil ich weiss, dass die Veröffentlichung dieser Texte einfacher ist. Bei zeitgenössischen Romanen hingegen ist von vornherein klar, dass es unglaublich schwierig sein wird, die Texte ohne grössere Eingriffe zu veröffentlichen. Deswegen lasse ich lieber die Finger davon.

Als Autor bist Du vor allem Lyriker. Hättest du Lust, auch Prosa zu schreiben?  

Ich habe mehrere Erzählungen geschrieben. Aber ich weiss, dass sie unter dem aktuellen politischen System niemals bei einem iranischen Verlag erscheinen könnten.  

Besteht für Übersetzerinnen und Autoren, die im Iran leben und publizieren, eine reale Gefahr, für politisch inkorrekte Äusserungen belangt zu werden? Ist das der Grund, wieso du nach Deutschland gekommen bist?  

Ich denke, meine Tätigkeit als Übersetzer hat mich nicht in Gefahr gebracht. Aber als Autor war die Situation viel prekärer. Die Angst, irgendwann im Gefängnis zu landen, war sicher ein Grund, wieso ich meine Heimat verlassen habe und nach Deutschland emigriert bin. Hinzu kommt, dass man als professioneller Autor und Übersetzer dauernd schikaniert wird: Der Zensurprozess wird künstlich verlängert, man darf auf einmal nicht mehr an der Universität arbeiten, und es wird immer schwieriger, eine Anstellung zu finden. Es geht darum, Kulturschaffende permanent unter Druck zu setzen und zu zermürben – irgendwann sieht man keine andere Möglichkeit mehr, als das Land zu verlassen. Das ist sehr traurig.  

Wie ist es für dich, in Deutschland zu leben?  

Es ist natürlich eine riesige Erleichterung, weil ich mich hier freier bewegen kann und Planungssicherheit habe. Andererseits fehlt mir der Kontakt zu den Leserinnen und Lesern im Iran, dort ist die persische Literaturszene viel lebendiger. Aber ich fühle mich sehr wohl in Berlin. Einzig das Wetter ist gewöhnungsbedürftig, es ist immer so feucht und dunkel hier. Ich habe hier zwar viel weniger Sorgen, aber mir fehlt die iranische Sonne!


Die Blase 

Grossmäulige Theokraten

gemästete Befugte

schadenfrohe Übermittler von Befehlen

schweigende Dichter

 

Wann also platzt die Blase

die, in der wir sitzen?  



Ali Abdollahi, geboren 1968 im Iran, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen iranischen Dichter. Er hat zudem zahlreiche deutschsprachige Autorinnen und Autoren ins Persische übersetzt, darunter Gottfried Keller, Robert Walser, Franz Hohler und aktuell Ilma Rakuša.    


Interview: Zorka Ciklaminy und Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren  

Foto: Mehrdad Sirusi

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