14 October 2020 – Interview

Mit Grimms Wörterbuch durch Chinas historische Schlachtfelder

Sie übersetzt chinesische Klassiker und auch amerikanische Enthüllungsliteratur: Eva Schestag im Übersetzerhaus Looren.
Sie übersetzt chinesische Klassiker und auch amerikanische Enthüllungsliteratur: Eva Schestag im Übersetzerhaus Looren.

Die Bandbreite von Eva Schestags Übersetzungsarbeiten ist gross: Sie hat ein fast 2000 Seiten starkes Heldenepos aus dem Klassischen Chinesisch übersetzt, aber auch Thriller aus dem modernen Shanghai, Interviews mit dem Künstler Ai Weiwei und amerikanische Enthüllungsbücher über Donald Trump. Zurzeit ist die deutsche Übersetzerin im Übersetzerhaus Looren zu Gast und arbeitet an einem Buch über chinesische Philosophie. Ein Gespräch über rollende Köpfe, sprachliche Distanz, Geheimhaltung und Bescheidenheit.

Eva, du hast sechs Jahre an der Übersetzung der Drei Reiche gearbeitet – ein monumentales Heldenepos, angesiedelt im China des 2. und 3. Jahrhunderts, in klassischem Chinesisch geschrieben. Es dreht sich um Kriege, Intrigen und Ränkespiele dreier Machthaber – die Köpfe rollen schneller, als man lesen kann –, hast du im Nachwort geschrieben. Wie hat dich diese Arbeit geprägt?

Manche Szenen in den Drei Reichen sind so grausam, dass ich fürchtete, gefühlsmässig zu verrohen. Da wird zum Beispiel ein Held im Gefecht von einem Pfeil im Auge getroffen. Worauf er ausruft, den von Mutter und Vater geschenkten Körper dürfe man nicht achtlos vergeuden!, sich den Pfeil mitsamt dem Auge herausreisst und das Auge hinunterschluckt! Oder: Vater und Sohn werden in einer Szene auf grausamste Weise vom Feind getötet, indem ihnen Stück für Stück das Fleisch herausgeschnitten wird. Sie stehen sich gefesselt gegenüber und müssen den langsamen Tod des anderen mitansehen. Oder: Eine Ehefrau zerkratzt der Konkubine ihres verstorbenen Ehemannes noch im Tod das Gesicht und verstümmelt ihren Körper, damit sie auch im Jenseits ihren Gatten gewiss nicht mehr verführen kann. Aber das ist natürlich nur eine Seite der Arbeit. Gleichzeitig empfinde ich es oft als grosses Privileg, mich mit meiner Übersetzungsarbeit weit weg vom Tagesgeschehen aufzuhalten und ganz ins 3. Jahrhundert einzutauchen. 

Die Handlung des Romans ist ein historischer Stoff aus dem China des 2. und 3. Jahrhunderts…

Die Drei Reiche handeln vom Niedergang der Han-Dynastie am Ende des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, als China nach vierhundertjähriger Blüte in die drei Reiche Wei, Shu und Wu zerfiel, und der Kampf um die Alleinherrschaft begann. Die Biografien der todesmutigen Helden, der tapferen Generäle, der genialen Strategen, der intriganten Witwen, der furchtlosen Amazonen,  und all der anderen handelnden Personen, die im 3. Jahrhundert aufgezeichnet wurden, bilden die historische Grundlage für den Roman. Danach lebte der Stoff mündlich weiter, auf den Marktplätzen, in den Teehäusern und Puppentheatern. Der Autor Luo Guanzhong ist der erste, der diese Heldengeschichten im 14. Jahrhundert gesammelt und daraus ein Buch gemacht hat. Trotz dieser historischen Grundlage würden sich beim Faktencheck wohl nur 30 Prozent als historisch real und der Rest als Fiktion herausstellen. (lacht)

Wie das? 

Geschichte ist erzählte Geschichte. Es heisst, dass manche Leute damals, um einen Eintrag in der Chronik der Drei Reiche zu erhalten, die Hof-Historiographen bestachen. Als Beamte am Kaiserhof hatten diese nicht die Aufgabe, die Fakten objektiv darzustellen, sondern sie mussten die vorhergehende Dynastie in einem möglichst schlechten Licht erscheinen lassen, um den neuen Machthaber zu legitimieren. Die Historiographen schrieben mit «geneigtem Pinsel», wie man in China sagt. 

Du hast in einer Veranstaltung unlängst erzählt, dass noch heute jedes Kind in China diese Heldengeschichten kennt. Sie leben weiter in Theaterstücken, Comic-Heften, TV-Serien und sogar Computergames…

Jedes Kind in China kennt den genialen Strategen Zhuge Liang, den moralisch guten Liu Bei und den Anti-Helden Cao Cao. Es gibt Opern, Theaterstücke, Fernsehserien und Kartenspiele mit diesen Stoffen. Bei meinem China-Aufenthalt 1984 sah ich noch Strassenstände mit kleinen Comic-Heftchen, die die wichtigsten Szenen aus den Drei Reichen in einfachen Texten erzählten, zum Beispiel die Schlacht an der Roten Wand. Für nur wenige Fen konnte man sich diese ausleihen und am Stand lesen. Kinder, alte Menschen, Erwachsene vor oder nach der Arbeit machten davon Gebrauch. Der bislang teuerste asiatische Spielfilm, Red Cliff von John Woo aus dem Jahr 2008, thematisiert ebenfalls diese berühmte Schlacht, und letztes Jahr erschien das bislang aufwendigste Computerspiel dazu in der Reihe Total War: Three Kingdoms. Die chinesischen Behörden klagten bei Erscheinen, dass gewisse Inhalte historisch nicht korrekt dargestellt seien, sodass sich die Markteinführung verzögerte. Inzwischen haben die Gamer auch das Buch für sich entdeckt und tauschen sich in Blogs darüber aus. Das Heldenepos ist in China sehr lebendig und die Menschen identifizieren sich mit ihren Vorbildern.

Wie erklärst du dir die Aktualität dieses historischen Stoffes im heutigen China?

Vielleicht liegt es daran, dass das Geschichtsbewusstsein oder die Heimatverbundenheit in China ausgeprägter sind als bei uns im Westen. Der deutsche Sinologe Wolfgang Bauer schreibt, dass die Utopie im Abendland stets in der fernen Zukunft angesiedelt ist. Das konfuzianische China aber blickt sehnsuchtsvoll zurück in die Vergangenheit. 

Die Drei Reiche ist im literarischen klassischen Chinesisch der Gelehrten verfasst. Es gibt darin viele verschiedene Textsorten: Gedichte, Gebete, Dekrete, Anklageschriften und eine Erzählerstimme, die sich immer wieder direkt an die Leser richtet. Deine deutsche Übersetzung ist leicht lesbar. Die Sprache wirkt sachlich und schlicht. Wie hast du dich für dieses sprachliche Register entschieden?

Ich habe mich bemüht, eine Sprache zu wählen, die unserer und auch jener Zeit angemessen ist, also weder altertümelnd noch allzu modern. Das Buch ist ja, weil die auftretenden Personen die Handlung tragen und vorantreiben, voller Dialoge. Zu Anfang habe ich verschiedene Anreden ausprobiert, um insbesondere hierarchische Gefälle in den sozialen Strukturen darzustellen. «Sie» war nicht formell genug und irgendwie zu modern, also wählte ich die eher alte Form «Ihr» und daneben «du». In den Drei Reichen treten etwa 1000 Personen auf. Ich warte jeweils, bis ich sie vor mir sehe, ehe ich sie sprechen lasse. Ich schlüpfe nicht in 1000 Rollen, sondern wahre immer eine gewisse sprachliche Distanz, damit auch dem Leser noch Raum für eigene Vorstellungen und Interpretationen bleibt. Fehlt mir ein passendes Wort im Deutschen, dann blättere ich regelmässig in Grimms Wörterbuch. Dort finde ich dann den «Überreder» oder das «Spesegeld» oder auch «traumtrunken» und »Luftgebilde« und weiss: Genau das habe ich gesucht.

Wie bist du zur Übersetzung der Drei Reiche gekommen?

China war 2009 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Ich wurde vom S.Fischer-Verlag angefragt, zu diesem Anlass eine Anthologie klassisch chinesischer Texte in mehreren Bänden herauszugeben. Nach Erscheinen der Sammlung chinesischer Klassiker kam die Idee eines Folgeprojekts auf: die deutsche Erstübersetzung des Romans Die Drei Reiche! Nach Einreichen meiner Probeübersetzung und eines Exposés dauerte es noch ein Jahr, bis ich den Auftrag erhielt. Für einen Verlag ist das eine grosse Investition. Gerade weil das Buch ein Klassiker ist, freue ich mich, dass sich ein renommierter Literaturverlag wie S. Fischer dafür entschieden hat. Aber ich spürte auch die Verantwortung auf meinem Rücken lasten, die man hat, wenn man Weltliteratur übersetzt.

Lass uns nach der Weltliteratur auch über die Populärliteratur sprechen: Du hast verschiedene Enthüllungsbücher aus dem Englischen in einem Team übersetzt. Zum Beispiel Stormy Daniels In aller Offenheit: Eine Frau gegen Trump sowie dieses Jahr den Bestseller von Mary L. Trump: Zu viel und nie genug, über Donald Trumps Familiengeschichte. Das ist ziemlich weit weg vom chinesischen Heldenepos. Wie bist du zu diesen Aufträgen gekommen? 

Den Übersetzungsauftrag für Stormy Daniels’ Buch erhielt ich durch die Empfehlung eines Lektors, den ich aus einem anderen Projekt kannte. Er fragte mich, ob ich einen Teil eines Enthüllungsbuches aus dem Amerikanischen übersetzen wolle, durfte aber nicht verraten, worum es ging, denn das wurde streng geheim gehalten. Ich war neugierig und wollte mitmachen, das hiess aber, die Katze im Sack zu kaufen und vorab eine Geheimhaltungsvereinbarung zu unterschreiben. Das Passwort für den Zugang zum Text-PDF erhielten wir per Telefon. Man konnte den Text weder ausdrucken noch kopieren und musste daher immer mit zwei Bildschirmen arbeiten. Weil die deutsche Übersetzung gleichzeitig mit dem amerikanischen Original erscheinen sollte, war der Zeitdruck enorm. Die Übersetzung wurde auf fünf Leute aufgeteilt. Es blieb kaum Zeit, das Original ganz zu lesen. 

Wie gestaltet sich ein solches Übersetzer-Teamwork? Und wie wird gewährleistet, dass das Buch am Schluss sprachlich einheitlich ist? 

Alle Fäden laufen hier bei der Lektorin oder dem Lektor zusammen, die bei solchen Projekten auch die Redaktion übernehmen. Sie treffen letztlich die sprachlichen Entscheidungen und gleichen die unterschiedlichen Stile der einzelnen Übersetzerinnen und Übersetzer im Team einander an. Der Zeitdruck ist gross, und es bleibt keine Zeit für Diskussionen. Wir werden in die sprachlichen Entscheidungsprozesse nicht miteinbezogen und sehen meist erst das finale PDF, wo nur noch Kleinigkeiten geändert werden können. Man vertraut hier dem Lektorat. 
Das Buch von Mary L. Trump kam in letzter Minute, weil es im Vorfeld juristische Hindernisse gab. Wir Übersetzer waren mehrere Tage lang auf Abruf. Dann war der Text eines Nachts plötzlich da, und alles ging Schlag auf Schlag. Wer ein Kapitel fertig hatte, bekam ein neues. Ich glaube, wir haben das Buch in zehn Tagen übersetzt. Das ist in gewisser Weise ein sehr fremdbestimmtes Arbeiten, und das Ergebnis ist ja auch nicht ein eigenes Buch. Dafür erhält man ein etwas höheres Honorar pro Seite als sonst und ist zu besseren Konditionen als üblich am Verkauf beteiligt. Enthüllungsbücher sind ein Millionengeschäft, die, wie ich denke, andere aufwendige aber wenig gewinnbringende Publikationen finanzieren.

Hat dir die Arbeit an den Enthüllungsbüchern auch Spass gemacht? 

Ich finde es immer spannend, mich in ein völlig anderes Gebiet einzuarbeiten, das ist Teil unseres Alltags als Übersetzerinnen. Bei Stormy Daniels war das sprachlich natürlich ganz besonders exotisch für mich – die Welt der Hardcore Pornos und das Sex-Business. Für Mary Trump fand ich schnell eine Sprache, aber es ist natürlich nicht immer so einfach, sich in eine Figur einzufühlen. Stormy Daniels zum Beispiel, ist absolut nicht meine Heldin. Sie hat eine Affäre mit Trump und nimmt zuerst Geld, um nicht darüber zu sprechen, dann nimmt sie Geld, um darüber zu sprechen. Aber abgesehen davon macht es auch Spass, an etwas Aktuellem zu arbeiten. Ein Buch wie das von Mary Trump kann ich auch verschenken und bekomme dann von Leuten, die sich nie zu den Drei Reichen geäussert hatten, zu hören: «Wie toll, dass du so ein wichtiges Buch mit-übersetzt hast!» 

Zurück zu deiner Hauptarbeit, der Übersetzung chinesischer Literatur. Du übersetzt auch aus dem modernen Chinesischen. Im April ist Rachegeist von Cai Jun erschienen. Funktioniert ein chinesischer Thriller wie ein amerikanischer oder europäischer? Wie nahe ist das den westlichen Lesern?

Der Thriller Rachegeist ist im modernen Shanghai situiert, mit all seinen aktuellen sozialen Problemen wie Wohnungsnot, Leistungsdruck oder Wettbewerb, der sogar schon Schüler in den Selbstmord treibt. Gleichzeitig sind buddhistische Vorstellungen wie Reinkarnation ein ganz selbstverständliches Faktum: Der Erzähler stirbt in der ersten Zeile, wird wiedergeboren und sucht seinen Mörder. Die beiden Welten gehen nahtlos ineinander über. Ebenso wie die literarischen Genres sich vermischen und Gedichte, Zitate, Träume in die Prosa einfliessen. Der Verlag hat allerdings viele dieser Gedichte herausgestrichen. Vielleicht, um sich ganz auf den Plot des Krimis zu konzentrieren oder das deutsche Lesepublikum nicht allzu sehr aus seinen Gewohnheiten zu reissen. 

Auch in den Drei Reichen werden ja Gedichte in die Romanhandlung eingeflochten…

Ja, dort dienen sie oft der Steigerung der Spannung. Da wird zum Beispiel der böse Cao Cao von seinem Widersacher eingeholt und bedroht – und, bevor wir den Ausgang erfahren, folgt als retardierendes Moment ein Gedicht! Dann fragt der Erzähler die Leser: «Wollt ihr wissen, wie es Cao Cao ergangen ist? Es steht im nächsten Kapitel! Hört weiter zu!» Das ist ein klassischer Cliffhanger. Und das ist nicht das einzig Moderne an den Drei Reichen. Seit einigen Jahren sind ja Serien ganz gross in Mode. Auch der Roman Die Drei Reiche ähnelt von der Struktur her einer Serie: die Komplexität der breit angelegten Handlung, die sich nicht chronologisch, sondern in parallel verlaufenden Erzählsträngen entwickelt; einzelne Episoden, die in sich abgeschlossen, aber dennoch Teil eines grossen Ganzen sind; der abrupte Abbruch jedes Kapitels auf dem Höhepunkt der Spannung; und die etwas längere Zeit, die man in diesem Fall als Leser braucht, um sich in die Geschichte hineinzufinden.

Wir sind zum Schluss des Gesprächs wieder bei den Drei Reichen angelangt. Du hast sechs Jahre der Übersetzung dieses Romans gewidmet. Das verlangt nebst Sachkenntnis viel Ausdauer und auch eine gewisse Bescheidenheit. Ist das eine typische Eigenschaft von Literaturübersetzerinnen?

Ich würde sagen, man braucht beim Übersetzen vor allem Geduld. Bescheidenheit halte ich generell für eine wichtige Eigenschaft, nicht nur für Übersetzer. Wir alle, auch der Autor des Originals, stehen ja im Schatten der Sache, um die es geht: die Literatur. 

Danke für das Gespräch!

Interview und Foto: Janine Messerli, Übersetzerhaus Looren

Eva Schestag, 1963 in Laufen an der Salzach geboren, hat Sinologie in München, Nanjing, Zürich und Taipeh studiert. Sie übersetzt Prosa, Philosophie und Lyrik aus dem Chinesischen (klassisch und modern) sowie aus dem Englischen und lebt heute als freie Übersetzerin in Frankfurt am Main.

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