30 September 2019 – Interview

Robert Walser ins Japanische übersetzen: von tanzenden Sätzen und sprechenden Zeichen

Fuminari Niimoto (links) und Megumi Wakabayashi spazieren auf Walsers Spuren durch Wernetshausen.
Fuminari Niimoto (links) und Megumi Wakabayashi spazieren auf Walsers Spuren durch Wernetshausen.

Fuminari Niimoto und Megumi Wakabayashi waren im August 2019 als Stipendiaten im Übersetzerhaus Looren zu Gast. Wir sprachen über ihre Beziehung zu Walser, über das Leben zwischen Übersetzung und Universitätsprofessur, über die Tücken der japanischen Sprache und Schrift – und über das Spazieren.

Sie beschäftigen sich beide bereits sehr lange mit Robert Walser. Wie kam es dazu?

Fuminari Niimoto: Im Rahmen meiner Magisterarbeit habe ich mich mit Hermann Hesse beschäftigt, weil mich in seinen Texten das Motiv des Spiels interessierte. Nach dem Studium von Hesses Texten war ich offen gesagt sehr enttäuscht. Hermann Hesse behandelt das Spiel nur inhaltlich, spielt aber nicht mit der Sprache. Nach der abgeschlossenen Magisterarbeit suchte ich nach einem neuen Forschungsgegenstand, und so fiel mir der Roman Geschwister Tanner von Robert Walser in die Hände, der mich augenblicklich faszinierte. Walser spielt von der ersten Seite an mit der Sprache, seine Sätze tanzen regelrecht. Mit diesem Spiel möchte ich mich nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern auch als Übersetzer beschäftigen und es auf der Bühne der japanischen Sprache neu inszenieren.

Megumi Wakabayashi: Ich habe an der Universität Deutsch gelernt und deutsche Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur studiert. Als erstes beschäftigte ich mich mit Georg Büchner. Aber wenn ich ihn las, war ich immer recht schnell «erschöpft». Auch wenn ich Büchner sehr schätze, war er nicht mein Typ (lacht). Zufällig kamen mir dann Walsers Prosastücke – erst auf Japanisch – in die Hände. Sie faszinierten mich sofort. Ich begann, Robert Walser auf Deutsch zu lesen und war beeindruckt von seiner Sprache; sie hat eine rätselhafte Leichtigkeit, hinter der aber auch etwas Dunkles und Schmerzhaftes verborgen liegt.

Es ist auffallend, dass Übersetzerinnen und Übersetzer aus Ostasien oft Professuren an der Uni innehaben und quasi in der Freizeit übersetzen. Ist es typisch für Japan, dass man das, was man literaturwissenschaftlich analysiert, auch übersetzt?

F.N.: In erster Linie übersetze ich, damit ich dem Text noch näherkomme. Hinzu kommt, dass man sich als Literaturwissenschaftler nur unter Fachleuten austauschen kann. Das ist frustrierend und manchmal etwas einsam. Die Übersetzung erlaubt es, die Glücksmomente bei der Lektüre mit dem japanischen Publikum zu teilen. In Japan kann man vom literarischen Übersetzen alleine nicht leben kann. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum viele Uniprofessoren übersetzen.

M.W.: Bei mir ist die Situation etwas speziell. Ich arbeite an einer pädagogischen Universität und unterrichte dort Deutsch als Fremdsprache, deutsche Geschichte und Kultur. In der Forschung hingegen beschäftige ich mich mit Walser und Schweizer Literatur. Forschung und Lehre sind also nicht identisch. Dass ich zusätzlich noch übersetze, erlaubt mir, mich eingängiger mit meinem Forschungsgegenstand zu beschäftigen.

Wird in Japan grundsätzlich viel übersetzte Literatur gelesen?

F.N.: Am meisten wird wohl übersetzte Literatur aus dem Englischen gelesen, gefolgt von Französisch und Deutsch. Was seit kurzem aufzukommen scheint, sind Übersetzungen zeitgenössischer chinesischer Literatur. Auch Bestseller aus Korea werden ins Japanische übersetzt und verkaufen sich sehr gut.

Welchen Stellenwert haben die Übersetzerinnen und Übersetzer im japanischen Literaturbetrieb?

F.N.: Ich glaube, Übersetzerinnen und Übersetzer werden in Japan anerkannt. Das sieht man beispielsweise daran, dass sie immer auf dem Cover genannt werden. Andererseits ist die Bezahlung sehr schlecht. Dies hängt auch mit den Übersetzenden an den Universitäten zusammen. Dort gibt es Leute, wir beide eingeschlossen, die quasi ohne Honorar Bücher übersetzen. Wenn wir Walser lesbar machen können, sind wir eigentlich schon zufrieden (beide lachen). Bei Projekten, wie diesen hier, sind wir immer auf Stipendien oder sonstige Unterstützung angewiesen. 

M.W.: Ich hatte bei diesem Projekt Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden. Die Verlage sind finanziell unter Druck und wollen oft keine übersetzte Literatur veröffentlichen, auch wenn sie diese grundsätzlich für attraktiv halten. 

Sie arbeiten nicht alleine an Ihren Walser-Übersetzungen, sondern zusammen mit Franz Hintereder-Emde, Angelika Emde und Koki Matsuu. Wie übersetzen Sie und wie sieht Ihre Zusammenarbeit aus?

F.N.: In einer ersten Phase übersetze ich extrem nahe am Ausgangstext. Dabei ist es fast egal, wenn die Sätze nicht japanisch klingen. Anschliessend bearbeite ich die erste Fassung ohne den deutschen Text. In der letzten Phase vergleiche ich den Text nochmals mit dem deutschen Original. In dieser Phase spielt Franz Hintereder-Emde eine wichtige Rolle, er übersetzt ja eigentlich in die andere Richtung und sieht deshalb Dinge, die mir nicht auffallen. So kann man den blinden Fleck eliminieren – nicht ganz, aber immerhin fast. Wir tauschen uns immer wieder aus. Auf diese Weise ist beispielsweise die Übersetzung von Geschwister Tanner entstanden. 

M.W.: Ich arbeite am Anfang sehr langsam und versuche schon in einer ersten Phase, den Text auf Japanisch lesbar zu machen. An sehr schwierigen Stellen übersetze ich wörtlich ins Japanische und überarbeite die Stelle später. Wenn ich mit Koki, meinem Mann, zusammenarbeite, vergleicht er meinen Text mit dem Deutschen und macht Korrekturen. Anschliessend diskutieren wir heftig – oder streiten gar – über den Text. Das braucht es manchmal.

Sie beschäftigen sich sehr intensiv mit Schweizer Literatur. Hilft es Ihnen, hier in dieser Umgebung respektive in der Schweiz zu sein? 

F.N.: Es ist eine ideale Umgebung. Es ist wichtig, dass man von der Hektik des Alltags in Japan abgeschnitten ist. Wenn ich in der Schweiz bin, kann ich die japanische Sprache «von aussen» sehen, das ist für mich persönlich sehr wichtig. Im Übersetzerhaus Looren kann man sich natürlich auch mit anderen austauschen. Hinzu kommen Begegnungen innerhalb der Schweizer Literaturszene, die für das Projekt sehr nützlich sind.

Mit Walser kann man sich ja leider nicht mehr austauschen. Waren Sie schon an Orten in der Schweiz, an denen Walser gelebt hat?

F.N.: Im Jahr 2013 gab es das Projekt Walser weltweit. Das war grossartig. Da konnten wir mit 19 Übersetzern zu allen wichtigen Stationen in Walsers Leben reisen. 

M.W.: Bei diesem Aufenthalt haben wir in Biel Vorträge gehalten. Die Stadt Biel ist als Heimatstadt von Walser sehr wichtig. Es war das erste Mal, dass ich die Stadt richtig erleben konnte. Wir haben auch eine Wanderung gemacht. 

F.N.: (lacht) 2 Stunden, direkt vor deinem Vortrag.

M.W.: (lacht) Genau. Das war sehr anstrengend. Walser hat ja immer Spaziergänge gemacht im Jura. Es war sehr schön, diese Atmosphäre zu spüren. 

F.N.: Obwohl du danach sehr erschöpft warst.

M.W.: Ja, das stimmt (lacht). Aber toll war es trotzdem.

Wir wollten ohnehin noch über das Spazieren sprechen. Walser ist bekannt für seine Spaziergänge, und Sie konnten in seiner Heimat auf seinen Spuren spazieren. Wie halten Sie es mit dem Spazieren in Japan?

M.W.: Wenn ich hier im Übersetzerhaus Looren bin, muss ich ja spazieren, nur schon, um etwas einzukaufen. Hier ist das aber auch sehr angenehm. Zu Hause in Japan bin ich ehrlich gesagt keine gute Spaziergängerin. Im hektischen Alltag von Tokio kann ich leider nicht so oft spazieren. Und wenn ich mal Zeit habe, dann ruhe ich mich lieber aus. Und im Sommer, wenn man Zeit für einen Spaziergang hätte, ist es in Tokio einfach zu heiss. Ich bleibe dann lieber drinnen und spiele Klavier oder Bratsche; das ist sehr entspannend. 

F.N.: Als ich vor zehn Jahren in Lausanne Geschwister Tanner übersetzte, geriet ich mit der Übersetzung ins Stocken und bin am Genfersee spazieren gegangen. Das war sehr schön. Wenn man beim Übersetzen nicht mehr weiterkommt, ist Entspannung sehr wichtig. In Tokio ist das nicht leicht. Dort gehe ich ohnehin nicht spazieren, sondern ins Schwimmbad. Wir sind also beide keine guten Spaziergänger (beide lachen).

In der europäischen Literatur gibt es eine Tradition des Spazierens. Der Flaneur, der beobachtet, zieht sich gewissermassen als Motiv durch die Literaturgeschichte. Gibt es eine ähnliche Tradition auch in der japanischen Literatur? 

M.W.: Es gibt auch in Japan ähnliche Traditionen, etwa Haiku oder Tanka. Hierbei handelt es sich um kurze Gedichte. Um einen geeigneten Stoff dafür zu finden, macht man oft einen Spaziergang oder eine Wanderung. Als Studentin habe ich das auch einige Male gemacht.

F.N.: Es gibt aber auch längere Prosatexte, die vom Rhythmus her «spaziergängerisch» geschrieben wurden. Der eine heisst Betrachtung aus der Stille (Tsurezuregusa) von Kenkō Yoshida aus dem 14. Jahhundert. Der andere heisst Kopfkissenbuch (Makura no Sōshi) von Sei Shōnagon aus dem 11. Jahrhundert, der von Susan Sontag mit Robert Walser in Verbindung gebracht wurde und dessen englische Übersetzung mich tatsächlich stark an einen Walser-Text erinnert. Es gibt aber auch Beispiele aus der neueren Literatur: Yoko Ogawa veröffentlichte 2017 ein Buch mit 12 Erzählungen (Fujichaku suru ryusei tachi). Die zweite Geschichte trägt den Titel «A letter to the Chairperson of Walking Association. In the memory of Robert Otto Walser». Yoko Ogawa scheint in diesem Text – inspiriert von unseren Übersetzungen – die Walsersche Geschichte fortschreiben zu wollen.

Jede Walser-Übersetzung ist eine grosse Herausforderung: verschachtelte Sätze, Wortschöpfungen, Helvetismen. Welche Schwierigkeiten ergeben sich beim Übersetzen eines Walser-Textes ins Japanische?

M.W.: Das ist wirklich eine schwierige Frage. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll (lacht).

F.N.: Ich hätte da ein Beispiel. Walsers ich ist bekanntlich sehr schwer zu fassen. Im Japanischen gibt es zahlreiche Ich-Bezeichnungen, die wir je nach Situation und zwischenmenschlicher Beziehung gebrauchen können. Theoretisch gibt es im Japanischen 33 Möglichkeiten, ich zu sagen. Das bedeutet, dass sich Walsers ich in eine dieser 33 Bezeichnungen verwandeln könnte. Aber für moderne japanische literarische Texte kommen natürlich nicht alle in Frage. Ich habe vier Varianten benutzt. Die erste Variante ist boku, das eher für ein jugendliches, lockeres ich steht. Die zweite ist ore – betont männlich, arrogant und aggressiv. Die dritte und vierte Variation sind watashi und watakushi. Die sind geschlechtsneutral und auch in Bezug auf Emotionen neutral. In der Übersetzung von Der Räuber verwendete ich für den Erzähler watakushi, die höflichste Form. Für den Räuber verwendete ich watashi, das auch höflich ist, aber nicht so, wie watakushi. Dieser feine Unterschied funktioniert gut in der Übersetzung. An einigen Stellen habe ich die beiden Formen dann absichtlich vertauscht. So kann Walsers Spiel mit der Sprache gut ins Japanische übertragen werden. Um so einem Kniff einzubauen, muss man den Text als Germanist sehr gut verstehen. Man muss sich fragen, was nicht übersetzbar ist, und eine Lösung finden, wie man eine ähnliche Wirkung im Japanischen erzielen kann. 

M.W.: Im Japanischen haben wir drei Schriften. Ein Ideogramm und zwei Phonogramme. Das Ideogramm (Kanji) kommt ursprünglich aus China. Davon wurden die beiden Phonogramme abgeleitet, wobei das eine (Hiragana) eher für Gefühlsausdrücke, das zweite (Katakana) hingegen für Lehnwörter verwendet wird. Die Kombination dieser drei Schriften ist für einen japanischen Text sehr wichtig. Verwendet man zu viele Ideogramme, wirkt der Text zu hart, zu theoretisch. Verwendet man hingegen zu viele Phonogramme, ist es schwieriger, die Bedeutung zu verstehen, und der Text ist anstrengender zu lesen. Schaut man auf eine Seite mit vielen Ideogrammen, kann man die Bedeutung viel schneller erfassen. Man muss sich gut überlegen, wie man die verschiedenen Schriften kombiniert. Der Stil eines Autors oder einer Autorin äussert sich unter anderem in der Kombination der verschiedenen Schriften.

Die Schrift bietet also auch eine Möglichkeit, auf Walsers eigenwilligen Erzählstil einzugehen? 

F.N.: Ja. Ich habe einmal davon geträumt, Geschwister Tanner ausschliesslich mit Hiragana zu übersetzen, so klänge der Text sehr sanft und emotional. Aber das geht natürlich nicht. 

Wo stehen Sie momentan mit Ihren Übersetzungen? Sind Sie schon in der Endphase?

F.N.: Leider noch nicht. Das liegt daran, dass ich parallel dazu auch an meinem Sachbuch über Robert Walser gearbeitet habe – das erste auf Japanisch. Zudem haben wir während unseres Aufenthaltes im Übersetzerhaus Looren ein weiteres Projekt geplant: Übernächstes Jahr wollen wir in Japan eine grosse Walser-Konferenz organisieren und die Walser-Rezeption weiter voranbringen.

M.W.: Ich habe bis anhin etwa zwei Drittel des Buches übersetzt. Es stellten sich einige Fragen, die wir hier gemeinsam besprechen konnten. Ich muss dem japanischen Text noch den letzten Schliff geben. Als nächstes Projekt würde ich gerne eine Anthologie mit gesammelten Prosastücken über Musik übersetzen. Und ich will mich natürlich weiter mit Walser beschäftigen. 

F.N.: Ich würde gerne die Texte, die Walser zu Lebzeiten herausgegeben hat, als einzelne Bücher übersetzen und veröffentlichen. Aber für ein solches Projekt müssen wir erst die Finanzierung sicherstellen und einen Verlag finden.

«Übersetzung erlaubt es, die Glücksmomente bei der Walser-Lektüre mit dem japanischen Publikum zu teilen», erzählt Fuminari Niimoto (links) im Interview.


Fuminari Niimoto übersetzt aus dem Deutschen ins Japanische und ist spezialisiert auf Schweizer Autoren, insbesondere Robert Walser, von dem er eine fünfbändige Werkausgabe herausgegeben und mitübersetzt hat. Daneben übersetzte er Bücher von Ilma Rakusa, Hermann Burger, Erica Pedretti und Jürg Halter ins Japanische. Er ist Professor am Department of International and Cultural Studies der Tsuda University in Tokyo. Im Übersetzerhaus Looren arbeitet er an der Übersetzung von Robert Walsers Poetenleben.

Megumi Wakabayashi ist Professorin an der Tokyo Gakugei Universität. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf deutschsprachiger Schweizer Literatur, insbesondere den Werken Robert Walsers, die sie mitübersetzt hat. Daneben hat sie Bücher von Erika Burkart übersetzt und arbeitet im Übersetzerhaus Looren an der Übertragung von Robert Walsers Vor Bildern.

Interview und Text: Zorka Ciklaminy und Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren

Fotos: Janine Messerli, Übersetzerhaus Looren

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