«Am Anfang steht eine Person mit einer Vision»
Die Autorin Nicole Hess und der Fotograf Goerg Aerni haben 15 Künstlerdomizile aus allen Sprachregionen der Schweiz porträtiert. Entstanden ist ein informatives und schön bebildertes Nachschlagewerk zu aussergewöhnlichen Rückzugsorten für Künstlerinnen und Künstler sämtlicher Sparten. Das Übersetzerhaus Looren ist eines dieser Domizile auf Zeit.
Die Künstlerhäuser in Ihrem Buch befinden sich nicht in urbanen Zentren, sondern in ländlichen Regionen – an der Peripherie, manchmal sogar an der Landesgrenze. Weshalb haben Sie sich für diese peripheren Orte interessiert?
Ausgangspunkt meines Buches war mein Besuch in der Künstlerresidenz L‘arc im waadtländischen Romainmôtier im Rahmen meiner Anstellung beim Migros-Kulturprozent. Dieses Erlebnis hat mich völlig gepackt: die kulturelle und baugeschichtliche Substanz, diese Atmosphäre und Stille. So entsteht Kreativität. Wir leben in einer enorm schnellen Zeit, sind digital vernetzt und permanent medialen Einflüssen ausgesetzt. Im Verlauf meiner Arbeit als Kulturvermittlerin habe ich mich immer wieder gefragt: Was braucht eine Künstlerin, um eine Idee vertiefen und fokussiert an einem Projekt arbeiten zu können? Für den kreativen Prozess braucht es Raum, nicht nur ein Zimmer, auch geografischen und zeitlichen Raum. So habe ich mich auf eine Entdeckungsreise gemacht, die erstaunlicherweise oft an die Schweizer Grenze führte.
Haben Sie auf dieser Suche Überraschendes entdeckt?
Überrascht haben mich die Vielfalt der Häuser und ihre unterschiedlichen Vorgeschichten: Es sind ehemalige Klöster, Hotels, Schlösser oder Industrieanlagen, in denen später Künstlerresidenzen entstehen. Die bestehende architektonische Substanz wird durch die Künstlerinnen und Künstler neu belebt und beseelt. Das Château de Lavigny zum Beispiel wurde im 18. Jahrhundert erbaut, dann von Voltaires Arzt bewohnt und schliesslich vom Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt gekauft. Die letzten Besitzer des Schlosses waren kinderlos und so stellte sich die Frage, was mit dem Wohnsitz später geschehen sollte. Das ist ein Schlüsselmoment für die Entstehung eines Künstlerdomizils: Am Anfang steht immer eine Person mit einer Vision – jemand, der Feuer und Flamme ist für die Idee, das Haus für Künstler nutzbar zu machen. Ein Residenzhaus braucht eine eigene Identität. Ein Raum allein reicht nicht, man muss ihn mit einer Vision ausstatten.
Das Château de Lavigny im Kanton Waadt, einst Wohnsitz des Ehepaars Rowohlt.
Waren Sie selbst schon einmal in einem Künstlerdomizil in Residenz?
Für das Buch Domizile auf Zeit habe ich an vielen Orten, die ich porträtierte, eine Nacht verbracht. Das war mir wichtig, weil man den Geist eines Hauses besser erfasst, wenn man dort auch einmal geschlafen hat. Ein eigenes Aufenthaltsstipendium erhielt ich 2007 von der Kulturstiftung Landis und Gyr – das war in einem kleinen Häuschen im Londoner East End. Ich erhielt das Stipendium als Filmkritikerin des Tages-Anzeigers. Mein Projekt war, die multikulturelle Gesellschaft im britischen Spielfilm zu untersuchen. In meinem Domizil im Londoner East End war ich aber selbst mitten im multikulturellen London gelandet, und so begann mich die Realität vor meiner Haustür stärker zu beschäftigten als jene im Film. Dank der Offenheit und Grosszügigkeit meines Gastgebers konnte ich mein Projekt entsprechend anpassen. Meine Beobachtungen habe ich zu Reportagen und Magazinbeiträgen verarbeitet.
Sie führen in Ihrem Buch 30 Künstlerhäuser aus allen Sprachregionen der Schweiz auf, 15 davon sind ausführlich porträtiert. Wie haben Sie die Domizile ausgewählt?
Ich wollte in diesem Buch die grosse Vielfalt an Schweizer Künstlerdomizilen aufzeigen – das breite Spektrum an Ursprungsfunktionen der Bauten, aber auch der Kunstsparten. Mir war wichtig, alle Landesteile der Schweiz zu berücksichtigen und dass die Häuser nicht nur Rückzugsorte bieten, sondern sich auch in der Vermittlung engagieren. Sie sollten zudem eine interessante Geschichte haben und professionell betrieben werden. Es sind Drehscheiben der Kunstproduktion ausserhalb der urbanen Zentren. In meinen Texten habe ich dann versucht, die spezielle Atmosphäre und den Geist jedes Hauses einzufangen.
Das wohl aussergewöhnlichste Künstlerdomizil ist das Pfeifermobil in Ebikon (LU). Das Wohnmobil ermöglicht Kunstschaffenden, zwei Monate auf Achse zu sein.
Wenn Sie die Orte vergleichen: Gibt es etwas, das im Übersetzerhaus Looren besonders ist?
Speziell ist sicher, dass das Übersetzerhaus Looren ausschliesslich auf die literarische Übersetzung fokussiert. Andere Häuser sind breiter angelegt, zum Beispiel die Fondation Jan Michalski, die jüngste der in diesem Buch porträtierten Künstlerresidenzen. Sie ist eine Art Gesamtkunstwerk: Die Initianten haben Architekten beauftragt, in der Tradition Corbusiers «cabanes» zu entwerfen. Sie haben überlegt, welche Kunstsparten zusammenpassen und dann einen Ort für Schreibende geschaffen, also Autoren, Lyrikerinnen, Essayisten oder Drehbuchautorinnen. Dahinter steht eine andere Vision als hinter dem Übersetzerhaus Looren. In Looren ist nebst dem Rückzugsangebot die Vermittlungsarbeit ein starker Pfeiler: Von den lokalen Veranstaltungen wie in der Wirtschaft zum Bachtel über die Sprachgrenzen hinaus ins Château de Lavigny und in die Villa Garbald. Prägend für den Geist in Looren dünkt mich auch, dass hier einmal ein Verlag untergebracht war und das Haus bereits mit dem Gedanken an Bücher gebaut wurde. Auch wenn fast alle Künstlerhäuser in schöner Umgebung liegen, so liegt das Übersetzerhaus Looren doch aussergewöhnlich malerisch: Die Lage mit Weitblick bis zum Zürichsee und in die Alpen, die Nachbarschaft mit dem Bio-Bauernhof – hier ist man wirklich in einer Idylle!
Eine Art Gesamtkunstwerk: Die Fondation Jan Michalski in Montricher (VD).
Wenn man das Buch mit Georg Aernis stilvollen Fotos durchblättert, so findet man darin sehr viel Idylle: Holzpavillons in stillen Blumengärten, Villen mit antikem Mobiliar und rosa Tapeten, schwebende Ateliers in futuristischer Architektur. Muss eine Künstlerin sich mit Kunst und Schönheit umgeben, um kreativ sein zu können? Wird Kunst nicht auch oft aus der Not geboren?
Das ist eine spannende Frage. Ich bin der Meinung, dass Kunst nicht nur aus Mangel entsteht, sondern auch aus Reibung und dem Wunsch, dem eigenen Leben oder der Zeit, in der man lebt, Einsichten oder Erkenntnisse abzutrotzen. Die Vorstellung, dass Kunst aus Verzicht erwachsen muss, scheint mir etwas romantisch. Wer als Künstler kein internationaler Shootingstar ist, schwimmt bestimmt nicht im Geld. Die meisten Künstlerinnen und Künstler führen ein normales Alltagsleben und gehen neben ihrer künstlerischen Tätigkeit noch einer Geldarbeit nach. Die Möglichkeit einer Residenz ist die Ausnahme. Ich betrachte es aus einer anderen Perspektive: Künstlerresidenzen sind Geschenke, welche die Betreiber den Künstlern machen – dafür, dass sie die Welt mit ihren Gedanken, Fantasien und Werken bereichern.
Meist sind es Private und Stiftungen, die Künstlerdomizile schaffen. Was ist die kulturpolitische Bedeutung dieser Residenzen?
Dieser Umstand hat mich bei der Recherche zum Buch überrascht. Es ist richtig, dass die vorgestellten Künstlerdomizile fast ausnahmslos von privaten Vereinen oder Stiftungen betrieben werden. Diese privaten Initiativen und das grosse ehrenamtliche Engagement haben mich beeindruckt. Hier arbeiten Menschen dafür, dass Kunstschaffende für eine bestimmte Zeit einen Ort zum fokussierten Arbeiten erhalten und mit ihrem Aufenthalt gleichzeitig den Residenzort bereichern. Von öffentlicher Seite pflegt zum Beispiel der Kanton Wallis eine aussergewöhnliche Public-Private-Partnership mit den Atelierhäusern. In Zusammenarbeit mit den Gemeinden und Kulturinstitutionen unterstützt er den Aufenthalt von Künstlern in fünf Künstlerresidenzen im Wallis durch einen Beitrag an die Lebenshaltungskosten. Das ist ein Modell, das mich überzeugt. Es zeugt von Offenheit und ist Ausdruck davon, dass die öffentliche Kulturförderung den Wert solcher Künstlerhäuser erkannt hat und die Belebung und den Austausch schätzt, den die Residenzkünstlerinnen und -künstler dem Ort bringen.
Das Buch Domizile auf Zeit ist auf Deutsch erschienen. Ist eine Übersetzung geplant?
Die Übersetzung in eine andere Schweizer Landessprache wäre wünschenswert, weil das Buch gesamtschweizerisch ausgerichtet ist und erstmals einen Überblick über künstlerische Rückzugsorte leistet. Ich habe aus dem Umfeld der westschweizer Künstlerresidenzen viele positive Rückmeldungen erhalten. Sie freuen sich, in der Publikation vertreten zu sein und sähen durchaus einen Absatzmarkt für eine französischsprachige Ausgabe.
Nicole Hess ist promovierte Germanistin und Kulturmanagerin MAS. Von 1999 bis 2006 war sie als Kulturredaktorin mit den Schwerpunkten Film und Kulturpolitik bei der Neuen Zürcher Zeitung und beim Tages-Anzeiger tätig. Als Projektleiterin Talentförderung und Film verantwortete sie von 2011 bis 2015 die Film-und Nachwuchsforderung des Migros-Kulturprozent. Nicole Hess ist stellvertretende Generalsekretärin des Migros-Genossenschafts-Bundes und freischaffende Kulturmanagerin. Sie lebt in Zürich.
Fotos Künstlerdomizile: Georg Aerni
Porträt Nicole Hess: Caroline Minjolle
Interview: Janine Messerli
Domizile auf Zeit – Oder: Welche Räume braucht der künstlerische Prozess?
Verlag Scheidegger und Spiess, Zürich, 2018
Autorin: Nicole Hess, mit Beiträgen von Jacques Cordonier und Nora Gomringer und Bildessays von Georg Aerni. Broschiert, 128 Seiten, 27 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-85881-622-1
Leseprobe aus Domizile auf Zeit:
Professionelles Babel: Übersetzerhaus Looren
Es ist ein gewittriger Frühlingstag, barock drängen sich die Wolken über der Hügellandschaft des Zürcher Oberlands. Im ehemaligen Wohnhaus der Familie Züst, an der Südflanke des Bachtels gelegen, sitzen Frauen mit kunstvoll gemusterten Kopftüchern am Esszimmertisch. Leise, aber eindringlich sprechen sie miteinander, während aus der Küche das Klappern von Geschirr zu hören ist. Worüber sich die Frauen unterhalten, versteht man nicht — und dies nicht nur aus akustischen Gründen. Es sind Übersetzerinnen aus Kasachstan, die Schweizer Literatur ins Kasachische übertragen und derart Kulturen verbinden, die grundverschieden sind. Formen einer Annäherung: Wort für Wort, Satz für Satz, Abschnitt für Abschnitt. Hier oben, in Wernetshausen, 725 Meter über Meer. (…)
Das Übersetzerhaus Looren im Zürcher Oberland ist eines der im Buch porträtierten Domizile auf Zeit.