18. Oktober 2023 – Gastbeitrag

Brief an Kim

Kim de l’Horizon (links) und Iryna Herasimovich, Leiterin des Übersetzungsworkshops zu "Blutbuch", im Garten des Übersetzerhauses Looren.
Kim de l’Horizon (links) und Iryna Herasimovich, Leiterin des Übersetzungsworkshops zu "Blutbuch", im Garten des Übersetzerhauses Looren.

Lieb* Kim oder liebe*r Kim,

wie soll ich Dich anschreiben? Das Deutsche zwingt uns ja gleich bei der Anrede zur Entscheidung, in welchem Geschlecht wir unser Gegenüber sehen. Natürlich ist ein Umweg über Hallo Kim möglich, aber auch das ist eine Entscheidung, keine Selbstverständlichkeit.

Entscheidungen und fehlende Selbstverständlichkeiten gehören zum Übersetzungsprozess per se, erst recht bei Blutbuch, das immer wieder als unübersetzbar bezeichnet wird. Bereits beim Titel, in dem die Blutbuche, das Blut, das Buch und auf Berndeutsch noch der Bauch stecken, müssten Übersetzende aufgeben, würde mensch von einem statischen Übersetzungsbegriff ausgehen, von einem Original, das wie eine Art Gefäss eine feste Anzahl von Bedeutungen enthält, die alle in die Zielsprache (unmöglich) zu transportieren sind.

Dein Blutbuch widersetzt sich allem Statischen, es umfliesst und unterwandert die Grenzen, sei es in Identitäten oder Gattungen, in Sprachregistern oder Themen, und macht damit unübersehbar, was das Übersetzen ist: vor allem ein Beziehungsraum. Das Blutbuch für übersetzbar zu halten, heisst, sich auf einen dynamischen und dialogischen Übersetzungsbegriff einzulassen: Übersetzende nehmen eine Beziehung zu Deinem Buch auf, sie setzen in ihren Sprachen die Bewegungen fort, die Du in Deiner Sprache begonnen hast. Jetzt sind wir an der Reihe, dem Inhalt der "carrier bags” (Ursula K. Le Guin) der fremden und eigenen Sprache, des Ausgangs- und Zieltextes Raum und Platz zu geben, indem wir Deine Stimme in unsere Sprachen übertragen.

Wie aus jeder Beziehung gehen wir auch aus dieser verändert hervor: Deine Stimme wurzelt so sehr in Durchlässigkeit und Hellhörigkeit, dass wir genauso hellhörig und durchlässig sein müssen wie Du. Wir müssen uns die Kimheit aneignen, sie in uns entdecken, ihr freien Lauf lassen, sie aushalten, sie gestalten, ihr gerecht werden und sie geniessen.

Sicher werden wir auch mit eigenen Wunden beschäftigt sein: Wir wissen ja alle, wie ambivalent das Erbe ist, wie sehr es uns in unseren Bewegungen und Formen bestimmt, auch wenn wir es loswerden wollen. Wir wissen alle, wie schwerwiegend das Schweigen ist, das sich um den Schmerz legt. Die aufkommenden Emotionen sind Teil dieser Arbeit, sagst Du.

Das Terrain des Blutbuches ist das Terrain des nackten Menschseins, ein heilendes und gefährliches. Einen glühenden Stoff, der Finger und Zunge verbrennt, nennt Deine französische Übersetzerin Rose Labourie Dein Buch. Und Jana van Luxemburg aus Tschechien schreibt in ihrem Vorwort, es strecke seinen Übersetzer:innen seine scheinbar ungezähmte Zunge heraus und freue sich, wenn sie sich an ihm die Zähne brechen.

Viele Deiner Übersetzenden entscheiden sich dafür, ein Vorwort zu schreiben, als literarische Agency präsenter als sonst zu werden und somit die Hierarchien der literarischen Welt, die in vielen Ländern gelten, ins Wanken zu bringen. Übersetzende werden vielerorts nämlich immer noch nicht als Co-Autor:innen, sondern als sich in den Dienst der Autor:innen Stellende gesehen.

In Deinem Brief an Übersetzende schreibst Du, Du möchtest ihnen POETISCHE FREIHEIT lassen. Ich wünsche mir, dass das Bild der Übersetzenden sich demnächst in eine Richtung verändert, dass so ein Satz mit hierarchischem Anhauch nicht mehr nötig ist, weil die poetische Freiheit der Übersetzenden von niemensch, auch nicht von ihnen selbst infrage gestellt, sondern ganz selbstverständlich genossen wird. Dein Buch kann mensch als Übersetzungsauftrag ja gar nicht akzeptieren, ohne sich die poetische Freiheit von vornherein genommen zu haben. Ist das dem gängigen Bild vom Übersetzen geschuldet, dass Du eine Legitimierung dieser Freiheit durch die Autorenperson für notwendig erachtest?

Du siehst, auch in diesem Bereich, wie in vielen anderen politischen und gesellschaftlichen Kontexten, gibt es erstarrte Bilder und Hierarchien, die unterwandert, zerstört, verwandelt werden müssen. Gut, sind wir dran.

In Vorfreude auf die Weiterführung

Iryna Herasimovich


Dieser Artikel erscheint ebenfalls in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Übersetzen des VdÜ.

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Sie hat Werke von Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Monika Rinck, Nora Gomringer, Mehdi Moradpour, Jonas Lüscher, Michael Köhlmeier, Franz Hohler und Franz Kafka ins Belarussische übersetzt. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Slavischen Seminar der Universität Zürich im SNF-Projekt "Künste und Desinformation". 

Fotos: Elbert Besaris

Workshop Blutbuch


Die Teilnehmenden der Übersetzerwerkstatt zu
Die Teilnehmenden der Übersetzerwerkstatt zu "Blutbuch" mit dem Hausteam Looren.


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