17. Januar 2019 – Interview

«Ich betrachte das Übersetzen als ein Verhältnis zur Welt, zum Leben»

Das Übersetzerhaus Looren und das Centre de traduction littéraire de Lausanne erhalten gemeinsam den Eidgenössischen Spezialpreis Vermittlung 2019.

Der Eidgenössische Spezialpreis Vermittlung würdigt ein besonderes Engagement für die Schweizer Literatur und deren Zugang zum Publikum und ist mit 40‘000 Franken dotiert. Dieses Jahr geht er an das Centre de traduction littéraire de Lausanne (CTL) und das Übersetzerhaus Looren. Beide Institutionen haben sich stark für die Anerkennung des literarischen Übersetzens engagiert. Irene Weber Henking, Leiterin des CTL (im Bild rechts) und Gabriela Stöckli, Leiterin des Übersetzerhauses Looren, reflektieren diese Entwicklung und sprechen über ihre Zukunftsvisionen. 

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Das Centre de traduction littéraire der Universität Lausanne (CTL), das Sie leiten, feiert 2019 sein dreissigjähriges Bestehen. Welche Veränderungen haben Sie im Bereich der literarischen Übersetzung feststellen können? 

Prof. Irene Weber Henking, Leiterin des CTL:
Es gibt wichtige Veränderungen: Die literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer sind in der Öffentlichkeit bekannter geworden. Die kreative Dimension ihrer Arbeit ist inzwischen anerkannt. Ausserdem wurde in der Schweiz ein ganzes Ausbildungssystem geschaffen, von der Grundausbildung bis hin zur Weiterbildung für erfahrene Übersetzer. Vor zwanzig Jahren glaubte man, jedermann in diesem Land sei zwei- oder sogar mehrsprachig, und Übersetzen sei etwas Selbstverständliches. Heute weiss man, dass dem nicht so ist. Und die Übersetzerinnen und Übersetzer haben ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung ihrer Rolle auf dem literarischen Markt entwickelt. 

Das CTL hat bei der Anerkennung der literarischen Übersetzung eine Schlüsselrolle gespielt. Was ist seine Besonderheit?

I.W.H.: Das CTL ist die erste Institution in der Schweiz, die eine Brückenfunktion zwischen den verschiedenen Akteuren der Welt der Übersetzung ausgeübt hat: Autoren, Übersetzer, Verlage, Leser, wissenschaftliche Kreise, Literaturfestivals. Wir haben die Rolle eines Fährmanns übernommen. Ich verwende diesen Ausdruck für die Übersetzer nicht gern, aber das CTL hat tatsächlich diese Rolle gespielt. Und wir haben diese Aufgabe zu einer Zeit in Angriff genommen, da sich niemand dafür interessierte. Heute arbeiten wir mit einem breiten Netzwerk von Partnern zusammen, ohne das wir unsere Aktivitäten gar nicht durchführen könnten. Wir sind in der Schweiz immer noch das einzige Institut auf Hochschulebene, das eine Ausbildung für literarische Übersetzer anbietet. Das Angebot umfasst zehn Sprachen in einer Vielfalt von Kombinationen. Ich kenne übrigens kein anderes Programm, das eine so breite Palette von verschiedenen Sprachen umfasst.

Die Position des CTL ist speziell, es ist gleichzeitig in der Universität Lausanne und in der Literaturszene verankert. Ist das eine Stärke?

I.W.H.: Diese doppelte Verankerung kann Entscheidungen verlangsamen, für uns ist sie aber vor allem eine Stärke: Wir profitieren von der Unterstützung durch die akademische Welt und erreichen ein breites Publikum. Wir organisieren regelmässig Lesungen ausserhalb der Universität und geben Schreibenden und Übersetzern so die Gelegenheit, ihren Lesern zu begegnen, was eine ideale Ergänzung zur Vermittlung von theoretischem Wissen an der Universität ist. Auch diesbezüglich haben wir eine Brückenfunktion. Zudem können wir schnell und unkompliziert Übersetzer und Studierende in Kontakt mit Sprach- und Literaturspezialisten bringen, die ihre Fragen zu Texten in Hindi, Latein, Italienisch oder Deutsch beantworten können.

Was bedeutet dieser Schweizer Spezialpreis Vermittlung, mit dem das CTL zusammen mit dem Übersetzerhaus Looren ausgezeichnet wird?

I.W.H.: Es ist die offizielle Anerkennung unserer Arbeit, die in der Romandie mit äusserst beschränkten Mitteln geleistet wird. Der Preis ist eine Belohnung für das Engagement nicht nur der Menschen, die im kleinen Team des CTL mitwirkten und mitwirken, sondern auch der Übersetzerinnen und Übersetzern, die mit uns zusammengearbeitet haben. In den dreissig Jahren haben etwa 500 Übersetzer Workshops geleitet, Vorträge gehalten oder an Lesungen teilgenommen. Was das Übersetzerhaus Looren betrifft, war seine Gründung eine höchst erfreuliche Nachricht: Endlich entstand der Ort für Arbeitsaufenthalte, der uns noch fehlte. Unsere Aktivitäten ergänzen sich sehr gut, und wir arbeiten regelmässig zusammen. Die Doppelauszeichnung freut uns sehr. Der Preis zeigt, dass es uns gelungen ist, ein schweizweites Netzwerk für literarisches Übersetzen aufzubauen. Er anerkennt unsere Daseinsberechtigung und spornt uns an, weiterzumachen.

Welche Punkte sollten Ihrer Meinung nach noch verbessert werden?

I.W.H.: Man muss sich weiter für die Sichtbarkeit der Übersetzerinnen und Übersetzer engagieren, das Erreichte ist noch nicht gefestigt. Auch im Bereich der Übersetzungskritik in den Medien gibt es noch einiges zu tun. Viel zu oft wird der Stil eines Übersetzers mit dem Stil des Autors verwechselt, und wir wissen sehr wenig über die Geschichte des Übersetzens, die für die Schweizer Literatur so zentral ist. Ausserdem muss die Übersetzung aus dem und ins Italienische stärker gefördert werden, sei es über die Verlage, sei es über einen neuen Preis. Wir müssen für ein sprachliches Gleichgewicht sorgen, aber ohne uns dabei auf die vier Landessprachen zu beschränken. In der Schweiz gibt es eine grosse literarische Vielstimmigkeit. Sie entsteht dank der Übersetzung, beschränkt sich aber nicht auf die vier offiziellen Sprachen.

* * *

Frau Stöckli, Sie leiten seit der Gründung 2005 das Übersetzerhaus Looren. Sind Sie mit Irene Weber Henkings Einschätzung in Bezug auf die Sichtbarkeit des literarischen Übersetzens einverstanden? Haben Sie dieselben Verbesserungen beobachtet, seit Sie das Übersetzerhaus Looren leiten?

Dr. Gabriela Stöckli, Geschäftsleiterin des Übersetzerhauses Looren:
Ja, das literarische Übersetzen hat deutlich an Sichtbarkeit gewonnen, das Interesse ist stark gestiegen. Ein konkretes Beispiel: Wir organisieren sämtliche Veranstaltungen (Lesungen, Diskussionsrunden usw.) in Zusammenarbeit mit Partnern. Zu Beginn war es schwierig, Veranstalter zu finden, die Anlässe zum Thema Übersetzen oder mit Übersetzerinnen und Übersetzern ins Programm aufnehmen wollten. Das hat sich stark verändert: Heute ist anerkannt, dass Diskussionen über das Übersetzen, Meinungsäusserungen von Übersetzerinnen und Übersetzern aufschlussreiche Beiträge zum Verständnis des literarischen Schaffens und des kulturellen Austauschs sind.

Was trägt das Übersetzerhaus Looren zu dieser Sichtbarmachung bei?

G.S.: Wir stecken seit je den grössten Teil unserer Energie in strategische Partnerschaften, mit dem Ziel, die Arbeit der Übersetzer aufzuwerten und sichtbar zu machen. Für uns sind Kooperationen mit ähnlich ausgerichteten Institutionen wie dem CTL essentiell, und wir freuen uns sehr, dass wir gemeinsam mit dem CTL mit diesem Spezialpreis ausgezeichnet werden.

Sichtbarkeit hängt mit der öffentlichen Wahrnehmung und einer Anerkennung des Berufs zusammen, sie ist aber auch ein erster Schritt in Richtung bessere Arbeitsbedingungen. Diesbezüglich ist uns die Zusammenarbeit mit Verbänden sehr wichtig. Wir arbeiten auch mit Verlagen und internationalen Institutionen zusammen und sind in ein europäisches Netzwerk von Übersetzerhäusern eingebunden.

2009 bis 2012 führte die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia das Programm «Moving Words» durch, das die Verbreitung der Schweizer Literatur, für die wir uns ebenfalls einsetzen, weltweit ausbaute und vermehrt auch Schweizer Übersetzerinnen und Übersetzer förderte. Daraus ergab sich eine effiziente und nachhaltige Zusammenarbeit.

Sie beherbergen Übersetzerinnen und Übersetzer aus allen möglichen Sprachen. War diese sprachliche Offenheit von Anfang an so vorgesehen?

G.S.: Sie ist eher eine Folge davon, dass wir auf Einschränkungen bezüglich Herkunft unserer Gäste verzichtet haben. Als private, wenn auch von öffentlicher Seite unterstützte Institution können wir solche Entscheidungen treffen. Wir erhalten dafür viel internationale Anerkennung. Vor allem aber ist es unser Kernanliegen, Übersetzerinnen und Übersetzer aus der ganzen Welt direkt zu fördern – durch Aufenthaltsstipendien für unsere Gäste, die in allen möglichen Sprachkombinationen arbeiten, aber auch durch Weiterbildungen in Form von Workshops.

Wie sehen Sie die Zukunft des literarischen Übersetzens und Ihrer Arbeit?

G.S.: Ich glaube, dass das Übersetzen auch künftig eine grosse Rolle spielen wird. Der Austausch, auch das Bedürfnis nach Austausch werden immer wichtiger werden. Die Leidenschaft, die sorgfältige Arbeit und die Geduld, die es für die Suche nach einer guten sprachlichen und kulturellen Entsprechung braucht, sind wertvolle Qualitäten. Der Übergang von einer Sprache in eine andere wird in der globalisierten Welt zunehmend zu einer allgemeinen Erfahrung werden, immer mehr Leute werden die Haltung eines Übersetzers, einer Übersetzerin einnehmen. Ich betrachte das Übersetzen als ein Verhältnis zur Welt, zum Leben.

Was unsere Projekte betrifft: Vor fünf Jahren haben wir mit «Looren America Latina» ein lateinamerikanisches und mit «Laboratorio italiano» ein italienisches Programm lanciert, die wir beide fortsetzen. 2017 haben wir zusammen mit dem CTL und in Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten ein Programm für Nachwuchsübersetzer ins Leben gerufen, ebenso die «Traversadas litteraras», ein rätoromanisches Programm für Übersetzung und mehrsprachiges Schreiben. Wir vertiefen auch unsere Beziehungen zu den anderen Schweizer Sprachregionen: So werden wir im kommenden Frühjahr zum ersten Mal fünf Übersetzerinnen und Übersetzern einen einmonatigen Aufenthalt im Château de Lavigny (VD) ermöglichen.

Interview: Nathalie Garbely

Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Sauser und Gabriela Zehnder

Foto: Maurice Haas

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