Kann man vom Übersetzen leben?
					Ein Beitrag von Camille Luscher
Als ich vor 15 Jahren mit der literarischen Übersetzung begann, sagte man mir: «Du wirst sehen, der Job ist ein wenig besser bezahlt als der des Autors, aber wirklich nur ein klein wenig.» Ich habe das Übersetzen als einen Beruf betrachtet, der mit Schreiben zu tun hat, eine Arbeit, die sich mit einem Text und seiner Nachschöpfung beschäftigt, und die nichts und zugleich alles mit den Arbeitsbedingungen eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin gemein hat.
Nichts mit ihnen gemein, weil der schöpferische Akt natürlich nicht derselbe ist. Übersetzen bedeutet, etwas Bestehendes neu schreiben, nachschöpfen, ohne sich jener Leere stellen zu müssen, aus der heraus etwas geschaffen wird, ohne jenen genialen Akt, der darin besteht, etwas aus dem Nichts zu schaffen, und der zweifellos eine enorme Bereitschaft und Konzentration verlangt.
Der Übersetzer kennt kein leeres Blatt. Wenn er die Qualen der Angst kennt, dann eher diejenigen eines vollbeschriebenen Blatts, mit all den Zeichen, einer eigenen Kohärenz, einer in sich schon geschlossenen Welt, die er genügend bewundert und schätzt, um Lust zu haben, sie in die eigene Sprache herüberzubringen, und in die er sich hineinleben muss, um sie nachzuschöpfen. Man spricht gern von der Bescheidenheit der Übersetzerinnen und Übersetzer: Doch im Grunde braucht es eine gehörige Portion Mut, um sich auf eine Ebene mit einem Max Frisch, einer Christa Wolf oder einem James Joyce zu stellen und zu behaupten, man könne ihre Sprache, ihren Stil und ihre literarische Eigenheit wiedergeben!
Übersetzen bedeutet, die schöpferische Geste des Autors oder der Autorin wiederzugeben. Und auch dies erfordert eine besondere Bereitschaft und Konzentration. Die zwar anders sind als jene, die es braucht, um etwas «aus dem Nichts» zu schaffen, die aber dennoch nicht vernachlässigt werden dürfen.
Doch der Status als Urheber ist zunächst einmal rechtlicher Natur. Nach dem Urheberrecht sind Übersetzerinnen und Übersetzer Urheberinnen und Urheber ihrer Übersetzung und teilen die Rechte mit dem Urheber des Originals. Den Übersetzer in einer Zeitung, im Radio oder bei der Bekanntgabe eines Literaturpreises nicht zu erwähnen, ist eine Urheberrechtsverletzung: #Namethetranslator. Das ist kein Bonus, aus Gefälligkeit, sondern eine Pflicht.
Was des Weiteren durchaus vergleichbar ist, sind die Einkommensquellen und die Vertragsmodelle. In dieser Hinsicht ist die Einbindung von Schriftstellerinnen und Übersetzern in ein und demselben Verband sinnvoll. Tatsache ist, dass man in der Schweiz heute nicht vom literarischen Übersetzen allein leben kann: Die von den Verlagen angebotenen Honorare, die sich bestenfalls nach einem von Pro Helvetia festgelegten Tarif richten, reichen nicht aus, um ein angemessenes Einkommen zu garantieren.
Rufen wir uns kurz einmal ins Gedächtnis, wie sich wie sich die Vergütung einer redaktionellen Übersetzung zusammensetzt. Es ist üblich, die Vergütung für eine Prosaübersetzung auf der Grundlage einer Normseite, heute vor allem einer Computerseite, zu berechnen (die Debatte darüber würde einen eigenen Artikel verdienen). Das sind 1400 bis 1500 Zeichen in Frankreich, 1500 bis 1800 Zeichen in der Schweiz und in Deutschland.
Die vertraglich festgelegte Vergütung – im besten Fall 60 CHF pro Normseite – umfasst alle Arbeitsschritte: Lesen des Textes, Übersetzung (durchschnittlich drei Durchgänge pro Seite), eventuelle Recherchen, Austausch mit der Autorin oder dem Autor, ein- oder zweimalige Überarbeitung der Übersetzung nach dem Korrekturlesen der Lektorin, Einarbeitung der Korrekturen eines Rechtschreib- und Grammatikkorrektors, ein-, zwei- und manchmal dreimaliges Korrekturlesen der Druckfahnen. In manchen Fällen kommt zu dieser Arbeit am Text noch die Arbeit am Paratext hinzu: Abfassung der Präsentation, Verfassen des Textes auf der Rückseite, der Biografie des Autors oder sogar eines Nachworts oder eines Kommentars des Übersetzers. Nicht alle Verleger verlangen diese zusätzliche Arbeit, von manchen wird sie sogar bezahlt. Doch das Kräfteverhältnis und das Engagement des Übersetzers für das von ihm übersetzte Buch machen eine Verhandlung schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Natürlich wollen wir dieses Vorwort schreiben, natürlich ist es uns wichtig, dass der Text auf der Rückseite gut formuliert ist. Keine Übersetzerin würde nach nahezu sechs Monaten Arbeit an einem Text aufgrund unzureichender Bezahlung auf das Korrekturlesen verzichten und dem Verleger die Entscheidung über die letzten Korrekturen überlassen: Sie würde Gefahr laufen, dass unter ihrem Namen ein Text erscheint, zu dem sie nicht stehen kann. Und damit sind wir wieder beim Begriff «Urheber»: Man schreibt seinen Namen unter einen Text und ist für ihn verantwortlich. Es handelt sich nicht um einen Übersetzungsdienst: Das von uns übersetzte Buch ist auch unser Buch.
Ich habe vergessen zu erwähnen, dass die Übersetzerinnen und Übersetzer selbständig Erwerbende sind und daher der Preis von 60 Franken pro Normseite natürlich alle Sozialabgaben beinhaltet. Der Arbeitgeber übernimmt keine zusätzlichen Kosten, etwa für Altersvorsorge, Ferien, Unfall- und Arbeitslosenversicherung. In diesem Tarif ist alles enthalten. Zum Vergleich: Eine ebenfalls selbständig erwerbende Grafikerin berechnet in der Schweiz etwa 150 Franken pro Stunde.
Die überwiegende Mehrheit der in der Schweiz erscheinenden Übersetzungen wird bezuschusst. Ohne Förderung würden sie nicht erscheinen, denn Übersetzungen sind teuer und erhöhen die Kosten des Buches deutlich, das dann auch noch Gefahr läuft, sich weniger gut zu verkaufen als ein Buch in der Originalsprache. So ist das, Übersetzungen verkaufen sich schlecht, und ehrlich gesagt geht es immer weiter bergab, das hört man von allen Verlegern. Eine Förderung ist daher unbedingt notwendig, damit Verlage überhaupt weiterhin Übersetzungen veröffentlichen können. Ich glaube jedoch, dass man zwischen der Förderung von Übersetzungen und der Förderung von Übersetzern unterscheiden muss: Letztere ermöglicht es Verlagen, die Übersetzer für ihre Arbeit zu bezahlen. Sie macht es ihnen also möglich zu arbeiten. Aber das heisst nicht, dass sie ihre Arbeitsbedingungen verbessert.
Literaturübersetzung nicht als Hobby, sondern als Beruf zu betreiben, bedeutet, Brotjobs mit der Übersetzungsarbeit zu vereinbaren und Auftragsarbeiten, Übersetzungsworkshops, Begegnungen mit Schulklassen, öffentliche Lesungen usw. anzunehmen (und zunächst einmal zu finden) – und das alles gleichzeitig. Um die Qualität der Arbeit zu gewährleisten, müssen diese verschiedenen zusätzlichen Aktivitäten zwangsläufig durch Stipendien, Residenzen und Übersetzungspreise ergänzt werden.
Bis vor kurzem ging für viele Literaturübersetzende – und übrigens auch Schriftsteller – die Rechnung einigermassen auf, indem sie neben anspruchsvollen Übersetzungen «leichte» Übersetzungen machten: kommerzielle, touristische, praktische Übersetzungen. Diese Texte wurden meist besser bezahlt. Heute ist dieses Gleichgewicht gestört, um nicht zu sagen zerstört: Diese leichten Übersetzungen gibt es praktisch nicht mehr. Fachübersetzer und -übersetzerinnen gelangen an mich mit dem Wunsch, sich der literarischen Übersetzung zuzuwenden, die sie für rentabler halten. Ich habe das Gefühl, dass die Welt auf dem Kopf steht! Und gleichzeitig sehe ich darin eine Hoffnung: den Traum von einer Gesellschaft, die die künstlerische Komponente, die Kreativität und die lange Zeit, die eine literarische Übersetzung beinhaltet, wertschätzen und die langweiligeren Arbeiten Maschinen überlassen würde. Aber ich darf nicht vergessen, dass das, was für mich langweilig ist, nicht für alle langweilig ist. Manche Menschen übersetzen gerne Packungsbeilagen von Medikamenten und möchten diese Arbeit auf keinen Fall verlieren. Und ich darf vor allem nicht vergessen, dass dieser Traum eine Utopie ist. Wir sind noch weit davon entfernt, in unseren Masterstudiengängen die Literaturübersetzung als einen Beruf mit Zukunft anpreisen zu können.
Ein Stipendium erlaubt den Übersetzerinnen und Übersetzern, mehr Zeit für Recherchen aufzuwenden. Oder für parallele Lektüren. Für den Weg, der es ermöglicht, in die Fussstapfen des Autors zu treten. Manchmal auch für Umwege, um auf den richtigen Weg zu finden. Für jene Art Latenzzeit, die ein tieferes Verständnis sowie Versuche und Entwürfe möglich macht. Denn die beste Übersetzung ist oft nicht die naheliegendste, die wörtlichste oder die direkteste.
Ein Stipendium macht es auch möglich, dass man zwischendurch etwas durchatmen kann und nicht unter Dauerdruck steht, wenn man bisweilen bis zu vier Texte gleichzeitig übersetzen muss und pausenlos arbeitet, von morgens bis abends, auch am Wochenende. Oder dass man vielleicht ein bisschen Geld auf die Seite legen kann, damit man sich im kommenden Monat nicht fünfmal beim Verleger melden muss, der einen seit sechs Monaten wegen eines «Buchhaltungsproblems» nicht bezahlt hat. Dass man so gleichzeitig die Beziehung zu diesem Verleger entspannen kann, oder zum nächsten, der gerne ein Vorwort hinzufügen würde, das für die Erläuterung des Kontexts des Buches und dessen Aufnahme bei der Leserschaft von entscheidender Bedeutung ist, der dafür aber wirklich nicht mehr als 200 CHF bezahlen kann.
Ein Stipendium für Übersetzerinnen und Übersetzer erlaubt diesen schliesslich auch, sich die Leidenschaft zu bewahren, die für das Übersetzen so wichtig ist. Denn es braucht Leidenschaft, um zu übersetzen, man muss sich dieser Tätigkeit uneingeschränkt hingeben können, ohne kleinlich zu sein, und zulassen, dass die Suche nach dem treffenden Wort das ganze Leben, die Gespräche, die Träume besetzt. Denn gerade das ist auch das Schöne daran und das, was man so leidenschaftlich liebt. Doch es wird immer schwieriger, von dieser Leidenschaft die Miete zu bezahlen, und die ständig steigenden Lebenshaltungskosten haben den fatalen Nebeneffekt, dass sie an dieser Leidenschaft nagen und sie zerfressen.
Stipendien für kreatives Schaffen, Stipendien für Recherchen, Honorarzuschläge, bezahlte Residenzen oder andere Formen der Unterstützung, die noch zu entwickeln wären, bieten Übersetzern und Übersetzerinnen bessere Arbeitsbedingungen und damit die Möglichkeit, der Prekarität ihres Berufs zu entkommen. Sie tragen dazu bei, dass die literarische Übersetzung als kulturelle Praxis und ganz allgemein als eine kreative Kunstform anerkannt wird.
Eine erste Fassung dieses Textes wurde anlässlich eines Treffens der Kulturverantwortlichen der Städte und Kantone der Schweiz vorgetragen, das vom A*dS und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia im Rahmen der Kampagne «Keine Schweiz ohne Übersetzung» organisiert wurde.
Übersetzung aus dem Französischen: Gabriela Zehnder

Camille Luscher ist freie Literaturübersetzerin und -vermittlerin. Sie ist Mitarbeiterin am Centre de traduction littéraire in Lausanne und wirkt in verschiedenen Organisationen zur Förderung des Austauschs zwischen den Landesteilen. Übersetzungen unter anderem von Max Frisch, Arno Camenisch, Eleonore Frey und Annette Hug.