19. Januar 2021 – Interview

Übersetze ohne Furcht und viel

Die Schauspielerin Maria Casarès und der Schriftsteller Albert Camus: Die beiden verband während sechzehn Jahren eine innige Liebesbeziehung, der sie in ihren Briefen Ausdruck verliehen.
Die Schauspielerin Maria Casarès und der Schriftsteller Albert Camus: Die beiden verband während sechzehn Jahren eine innige Liebesbeziehung, der sie in ihren Briefen Ausdruck verliehen.

Von 1944 bis 1959 schrieben sich der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus und die Schauspielerin Maria Casarès über 800 Briefe. Darin tauschen sie sich über ihren Alltag, philosophische und gesellschaftliche Fragen aus, schreiben aber vor allem über ihre Liebe und die Sehnsucht nacheinander. Andrea Spingler, Claudia Steinitz und Tobias Scheffel haben den fast 2000 Seiten langen Briefwechsel gemeinsam ins Deutsche übertragen. Im Interview erzählen die drei davon, wie es ist, ein solches Werk im Team zu übersetzen.

Im Juni 2021 wird der Briefwechsel unter dem Titel Schreib ohne Furcht und viel bei Rowohlt erscheinen. Was macht diesen Briefwechsel besonders?

Tobias Scheffel: Beeindruckend finde ich die radikale Reduzierung auf die Gefühlswelten der beiden. Man könnte ja denken, dass ein Paar, das sich während 16 Jahren Briefe schreibt – in der intensivsten Phase 700 Seiten in vier Monaten! ­–, nicht nur über die gemeinsame Beziehung reflektiert. Aber von dem, was Albert Camus als Schriftsteller und Philosophen ausmacht, findet man in diesen Briefen nur sehr wenig. Er schreibt fast ausschliesslich über die Liebe. Von Maria Casarès erfährt man mehr über ihren Alltag, besonders über das Theaterleben.

Andrea Spingler: Man hat schon den Eindruck, dass die Beziehung eigentlich in diesen Briefen stattfindet. Camus hat ja noch seine Familie, andere Geliebte, seine schriftstellerische und philosophische Arbeit, andere Briefwechsel. Da kann eigentlich nicht viel Zeit übrigbleiben, um die Beziehung auch tatsächlich auszuleben.

TS: Wenn das wahr ist, was sie sich schreiben, dann passt das eigentlich nicht zu ihrem Verhalten. Camus hat seine Frau nicht verlassen, er hat trotz seiner Liebe zu Maria Casarès kaum etwas an seinem Leben geändert. Die Briefe waren wohl eher ein permanentes Beschwören einer Fiktion, die sie beide brauchten.

Claudia Steinitz: Es gibt immer wieder Pausen von mehreren Monaten im Briefwechsel. In dieser Zeit sind sie ein Paar. Sie schreiben auch von ihrer gemeinsamen Zeit, aber wir wissen nicht genau, was da passiert. Wir kennen nur die Briefe.

Wie unterscheidet sich die Sprache der beiden?

TS: Stilistisch sind die beiden sehr unterschiedlich. Camus bedient sich einer einfachen und klaren Sprache. Er wiederholt sich auch öfter.

AS: Sie schreibt elaborierter und auch literarischer als er.

TS: Ja, Maria Casarès scheint in den Briefen viel lieber mit der Sprache zu spielen. Hinzu kommt, dass Französisch ja gar nicht ihre Muttersprache ist, das ist schon sehr beeindruckend.

Warum soll man fast 2000 Seiten Briefe lesen?

TS: Bei diesem Buch kann man nicht nur zehn Seiten lesen. Der Reiz und die Kraft liegen eben genau in der Länge, deshalb sollte man sich davon nicht abschrecken lassen.

CS: Die beiden sind ja nicht mehr ganz bei Sinnen, wenn sie sich nachts um drei noch lange Briefe schreiben. Mich fasziniert, wie man beim Lesen den Rausch, in dem sie sich befinden, spürt.


Albert Camus an Maria Casarès

21. November [1944]

Einen glücklichen Geburtstag, mein Liebling. Ich würde Dir gern zugleich all meine Freude schicken, aber  es stimmt, dass ich das nicht kann. Ich habe Dich gestern zerrissenen Herzens verlassen. Ich hatte den Nachmittag, den ganzen Nachmittag auf Deinen Anruf gewartet. Am Abend habe ich noch klarer begriffen, in welchem Maße ich Dich nicht besitze. Etwas in mir hatte sich schrecklich verknotet. Ich konnte nicht sprechen.

Ich mache mir Vorwürfe, Dir das alles mitten in Deiner Erschöpfung zu sagen. Ich weiß ganz genau, dass das nicht Deine Schuld ist, aber was willst Du gegen diesen Schmerz tun, der mich überkommt, wenn ich alles ermesse, was Dich von mir trennt. Ich habe es Dir gesagt, ich hätte gern, dass Du nah bei mir lebst, ununterbrochen - und ich weiß, wie absurd das ist. [...] 

Albert Camus à Maria Casarès

21 novembre [1944]

Heureux anniversaire, mon chéri. Je voudrais t’envoyer toute ma joie en même temps, mais il est vrai que je ne le peux pas. Je t’ai quittée hier le coeur déchiré. J’avais attendu l’après-midi, tout l’après-midi, ton coup de téléphone. Le soir, j’ai mieux compris encore à quel point je ne te possédais pas. Il y avait en moi une terrible chose nouée. Je n’ai pas pu parler.

Je m’en veux de te dire tout ça au milieu de ta fatigue. Je sais très bien que ce n’est pas de ta faute, mais que veux-tu faire contre cette douleur qui me prend lorsque je mesure tout ce qui te sépare de moi. Je te l’ai dit, je voudrais que tu vives contre moi, sans trêve – et je sais combien c’est absurde. […]    


Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

CS: Vor eineinhalb Jahren habe ich die Anfrage erhalten. Mir war sofort klar, dass ich das nicht alleine machen werde. Ich hatte schon mit Tobias zusammengearbeitet. Andrea hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit diesem wunderbaren Werk beschäftigt. Und so haben wir drei dann zusammengefunden. 

Wie habt ihr euch die Arbeit aufgeteilt?

AS: Maria Casarès hat deutlich mehr geschrieben als Albert Camus. So haben Claudia und ich Casarès übersetzt und Tobias hat Camus übernommen. Da wir zum Teil noch andere Aufträge hatten, mussten wir uns im Laufe des Prozesses stellenweise gegenseitig aushelfen. Im Grossen und Ganzen konnten wir die Aufteilung aber einhalten. 

Wie seid ihr dann vorgegangen, lesen alle alles von allen?

TS: Bei einem ersten Treffen hatten wir vereinbart, dass alle von allen die ersten 50-60 Seiten lesen. Danach hatten alle jeweils eine Person zum Gegenlesen. So wurde der gesamte übersetzte Text von mindestens zwei Personen gelesen. Nach dem Gegenlesen blieben aber noch unzählige Fragen offen, die wir zu dritt besprochen haben. 

Was sind die grössten Herausforderungen beim Übersetzen eines solchen Werkes?

TS: Am Anfang war für mich nicht das Übersetzen die grösste Herausforderung. Ich war mit einem Text konfrontiert, bei dem ich dem Verfasser sehr nahe komme und weiss, dass der Mensch, der diese Zeilen schreibt, verzweifelt ist. Sobald wir dann mit dem gemeinsamen Austausch begonnen haben, wurde es einfacher. Ich konnte mich wirklich auf die Textarbeit konzentrieren.

AS: Ich fand es sehr faszinierend, was man aus Maria Casarès’ Briefen über die Theatergeschichte erfährt. Da war es schwierig, nicht hängenzubleiben und nachzuforschen. Ich lief dann manchmal Gefahr, mich in Recherchen zu verlieren, die im besten Fall zu einer Anmerkung wurden.

CS: Für mich war im ersten Moment die Masse an Text etwas überwältigend. Im Prozess war die grösste Herausforderung dann, unsere unterschiedlichen Arbeitsweisen und -geschwindigkeiten unter einen Hut zu bringen. Das war für mich aber auch eine lehrreiche und wertvolle Erfahrung. So sah ich beispielsweise, was bei meiner eher schnellen Arbeitsweise manchmal verloren geht.

Habt ihr schon mal in einer solchen Konstellation übersetzt?

AS: Ich habe noch nie so gearbeitet – es war eine tolle Erfahrung. Ich war begeistert, wie gut wir uns gefunden haben. Alles hatte eine gewisse Leichtigkeit. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch ganz anders sein kann.

CS: Man muss hier sagen, dass dieses Projekt nicht vergleichbar ist mit Bestsellern, die wegen hohen Zeitdrucks im Team übersetzt werden (beispielsweise die kürzlich erschienenen Memoiren von Barack Obama). Es gibt unterschiedliche Arten des gemeinsamen Übersetzens. Ich habe schon öfter Bücher zu zweit übersetzt, auch schon mit Tobias. Das war aber immer mit einem intensiven Austausch verbunden, und es ging nicht darum, Zeit zu sparen.

Euer Loorenaufenthalt im Frühling konnte leider nicht stattfinden. Was hat das für euch bedeutet?

CS: Das war sehr einschneidend. Es wäre der Beginn der intensiven Arbeitsphase gewesen, wir hätten in Looren drei Wochen eng zusammenarbeiten können.

TS: Wegen Corona waren zusätzliche Treffen auch in Deutschland kaum möglich. Im Juni haben wir uns ein paar Tage in Freiburg getroffen und im Oktober konnten wir dann zum Glück doch noch nach Looren kommen. Diese Treffen waren unbedingt notwendig und jedes weitere wäre auch gut gewesen.

Wie sah eure Zeit bei uns aus?

CS: Wir konnten vierzehn Tage sehr konzentriert arbeiten und haben von der Aussenwelt kaum etwas mitbekommen. Der Austausch während der Zeit in Looren war enorm wichtig. Danach haben wir uns jeden Tag zwei Stunden auf Zoom getroffen. Der Prozess funktionierte dann auch so erstaunlich gut. Aber  das war nur möglich, weil wir zuvor zwei Wochen so eng zusammenarbeiten konnten.  

Was passiert jetzt noch im Lektorat?

AS: Die Übersetzung ist wegen unseres Austauschs schon viel ausgereifter, als das normalerweise der Fall ist. Die Qualität ist höher, weil wir gewissermassen schon ein Lektorat gemacht haben. Deshalb sind wohl weniger grundsätzliche Eingriffe in den Text nötig.   

Würdert ihr lieber immer zusammen übersetzen?

AS: Ja, das wäre schon schön.

TS: Es war wunderbar, so zu arbeiten. Aber man muss die Dinge auch beim Namen nennen: Ökonomisch ist das natürlich ein Desaster! (lacht) Die höhere Qualität kommt durch ein Vielfaches an Arbeit zustande. Unser Projekt wurde nicht zuletzt durch eine grosszügige Förderung des DÜF ermöglicht.

CS: Neben den Überlegungen zur Qualität und zum Ökonomischen möchte ich noch den Spass ins Spiel bringen. Es war einfach wunderschön, so zusammenzuarbeiten! Ein solches Projekt bringt einen auch mal raus aus der Einsamkeit des Übersetzens.


Andrea Spingler, Claudia Steinitz und Tobias Scheffel


Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, hat durch das Studium der Theaterwissenschaft in München die französische Sprache für sich entdeckt und übersetzt seither manchmal ältere, vorwiegend aber zeitgenössische Literatur aus dem Französischen ins Deutsche. Sie lebt in Norddeutschland und Südfrankreich.

Claudia Steinitz übersetzt seit dreissig Jahren französische Autorinnen wie Albertine Sarrazin, Virginie Despentes und Véronique Olmi. Aus der Romandie hat sie unter anderem Romane von Marie-Jeanne Urech, Olivier Sillig und zuletzt Gabriella Zalapì ins Deutsche übertragen.

Tobias Scheffel, 1964 in Frankfurt/Main geboren, hat Romanistik in Tübingen, Tours (Frankreich) und Freiburg im Breisgau studiert. Er übersetzt Belletristik, Essais sowie Kinder- und Jugendliteratur aus dem Französischen und wurde 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Er lebt als freier Übersetzer in Freiburg/Br.


Interview: Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren

Titelbild: "Albert Camus" by DietrichLiao is licensed under CC BY-SA 2.0, Maria Casarès, Studio Harcourt, Public domain, via Wikimedia Commons, Fotomontage von Steven Wyss

Porträts: "Claudia Steinitz" Guido Notermans, "Tobias Scheffel" José Poblete

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