29. April 2022 – Interview

«Übersetzen bedeutet, etwas zu einer Sprache und ihrer Entwicklung beizutragen.»

«Durch das Übersetzen kann man beweisen, wozu eine Sprache fähig ist.», erzählt Johannes Kabatek im Gespräch. Foto: UZH/Frank Brüderli
«Durch das Übersetzen kann man beweisen, wozu eine Sprache fähig ist.», erzählt Johannes Kabatek im Gespräch. Foto: UZH/Frank Brüderli

Bei «grossen» Sprachen wie Deutsch oder Englisch ist es selbstverständlich, dass in sie und aus ihnen übersetzt wird. Bei Minderheitensprachen wie der vierten Schweizer Landessprache Rätoromanisch ist das weniger offensichtlich. Wozu soll aus oder in eine Sprache übersetzt werden, die nur wenige Sprecherinnen und Sprecher hat und die regional stark begrenzt ist? Im Interview erklärt Sprachwissenschaftler Johannes Kabatek, Romanistik-Professor an der Universität Zürich, welche Funktionen das Übersetzen für die Emanzipation einer Sprache haben kann und warum es für die Entwicklung einer Sprache so wichtig ist. 

 

Am 7. Mai 2022 organisiert das Übersetzerhaus Looren gemeinsam mit der Lia Rumantscha  die zweite grosse «Traversadas Litteraras»-Tagung. Akteurinnen und Akteure aus der rätoromanischen Literaturszene und Interessierte diskutieren über das Schreiben, Übersetzen und Publizieren in der vierten Schweizer Landessprache. In diesem Rahmen findet ein Podiumsgespräch mit Johannes Kabatek und Rico Valär, Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der Universität Zürich, zum Thema Übersetzung statt. 


Herr Kabatek, was macht das Übersetzen mit einer Sprache?

Übersetzen heisst fürs Erste einfach, dass man einen Text aus einer Ausgangssprache mit den Mitteln einer Zielsprache wiedergibt. Das hat eigentlich mit der Sprache unmittelbar nichts zu tun. Wenn wir etwas übersetzen, konzentrieren wir uns auf den Text, mit dem wir arbeiten, und denken nicht darüber nach, dass wir damit die Sprache verändern und prägen. Aber genau das tun wir eben immer auch. 

Inwiefern?

Sprechen, Schreiben und Übersetzen bedeutet, dass man etwas zu einer Sprache beiträgt. Durch diesen Akt wird Neues geschaffen und damit auch die Sprache an sich verändert. Bei gut ausgebauten Sprachen fällt dieser Beitrag nicht besonders ins Gewicht und wird vielleicht auch gar nicht bemerkt. Ganz anders sieht es bei Minderheitensprachen wie dem Rätoromanischen mit seinen Idiomen Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader aus. Bei Sprachen, die in vielen Textbereichen nicht ausgebaut sind, kann eine Übersetzung einen grossen Einfluss haben.  

Was meinen Sie mit «ausgebaut»?

Der Begriff «Ausbau» ist in der Linguistik sehr wichtig. Er bezieht sich aber nicht auf das Sprachsystem an sich. Grammatisch, morphologisch und syntaktisch sind alle Sprachen vollkommen – das Sursilvan genauso wie das Hochdeutsche oder Englische! Jedoch unterscheiden sich die Sprachen zum Teil sehr stark in ihrem Ausbau. Dabei geht es darum, was – in den unterschiedlichsten Lebensbereichen – in einer Sprache bereits gesagt oder geschrieben wurde und was nicht. Je mehr schon geschrieben wurde, desto besser ist die Sprache ausgebaut. 

Es kann also nicht in jeder Sprache alles gesagt werden?

Doch! Es ist selbstverständlich möglich auf Vallader ein Traktat über Quantenphysik zu schreiben. Das hat aber meines Wissens noch nie jemand getan. Deshalb müsste in der Sprache zum Beispiel eine wissenschaftliche Terminologie, die noch nicht existiert, neu geschaffen werden. Um einen solchen Text zu schreiben, wäre ein Ausbau der Sprache in verschiedenen Bereichen nötig. 

Und wenn man in eine Sprache übersetzt, dann betreibt man immer auch einen solchen Ausbau?

Übersetzen ist für den Ausbau einer jeden Sprache von grosser Bedeutung, weil dadurch etwas in der Sprache gesagt oder geschrieben werden kann, das bisher nicht vorhanden war. Es geht aber darüber hinaus, weil das Übersetzen auch ein Instrument der Demonstration sein kann. Übersetzen war schon immer – und spätestens seit dem Mittelalter – mit Sprachemanzipation verbunden.  

Es geht also darum zu zeigen, was die eigene Sprache kann?

Genau. Dafür gibt es viele Beispiele. So wurden etwa in der Renaissance die Texte von Erasmus von Rotterdam in die unterschiedlichsten europäischen Vulgärsprachen übersetzt oder Heidegger wurde in den 50er Jahren ins Galicische übertragen. Ziel war dabei nicht nur, die Texte in einer anderen Sprache lesbar zu machen, sondern auch das Prestige der Zielsprache zu erhöhen. Man wollte beweisen, dass die eigene Sprache zu Grossem fähig ist. Gerade das Übersetzen in eine Minderheitensprache bedeutet also immer auch eine Aufwertung der Sprache. 

Braucht es dafür einen festgelegten schriftlichen Standard?

Nein, das ist keine Bedingung. Selbstverständlich ist es einfacher, einen literarischen Text zu schreiben, wenn es schon einen Standard gibt. Wenn ein solcher nicht vorhanden ist, muss die Ausbauarbeit von der Übersetzerin oder vom Autor geleistet werden. Man kann durch einen kreativen Akt eine Schriftlichkeit erschaffen, die es zuvor nicht gab. Eines der berühmtesten historischen Beispiele dafür ist sicherlich Dantes Divina Commedia. Sie wurde ganz bewusst nicht auf Lateinisch, sondern auf Toskanisch geschrieben, in einer Vulgärsprache, die bis dahin noch keine vergleichbare Schriftlichkeit entwickelt hatte. Dante schuf mit diesem einen monumentalen Text eine der Grundlagen für das Standarditalienische, wie wir es heute kennen. 

Ist es denn erstrebenswert, dass eine Sprache in möglichst vielen Textbereichen ausgebaut wird?

Nicht zwingend. Es ist für das Überleben einer Sprache auf jeden Fall förderlich, wenn sie in so vielen Lebensbereichen wie möglich angewendet werden kann. Umgekehrt bedeutet das aber keineswegs, dass eine Sprache automatisch stirbt, wenn sie nicht stark ausgebaut ist. Diglossiesituationen können sehr gut funktionieren. Zwei Sprachen können nebeneinander existieren; eine als Alltagssprache und ein schriftlicher Standard. Man spricht dann im Dorf oder zu Hause die eine und in der Wissenschaft eine andere Sprache. Das kennen wir auch in der Deutschschweiz mit den Dialekten und dem Hochdeutschen. Schlussendlich ist es immer eine kollektive Entscheidung der Sprechergemeinschaft, in welche Gebiete eine Sprache vordringen kann und in welche nicht.

Und was bedeutet es für eine Sprache, wenn aus ihr übersetzt wird?

Ich denke, hier gibt es grundsätzlich zwei Funktionen. Die erste ist das Prestige gegen aussen. Wenn eine Sprache Schriftstellerinnen und Schriftsteller hervorbringt, die übersetzt werden und international anerkannt sind, erhöht dies das Ansehen der Sprache. Hierfür ist das Katalanische ein gutes Beispiel. Das ist eine Minderheitensprache, die eigentlich keine mehr ist. Es wurde mit sehr grossem – auch wirtschaftlichem – Einsatz dafür gearbeitet, dass die Sprache weltweit Beachtung findet. Ein Ziel der Sprachpolitik war dort ganz klar, dass aus dem Katalanischen in die Sprachen der Welt übersetzt wird. 

Und die zweite Funktion?

Ist die Prestigewirkung nach Innen. Wenn aus einer Sprache übersetzt wird, hat das auch eine Signalwirkung für die Sprecherinnen und Sprecher dieser Sprache. Man kann sich mit der Sprache identifizieren und ist stolz auf deren kulturelle Leistungen. Das mag jetzt vielleicht nebensächlich erscheinen, kann aber entscheidend sein, wenn eine Minderheitensprache mit einer anderen Sprache in Konkurrenz steht. Die Bereitschaft der Sprecherinnen und Sprecher, die Sprache zu verwenden und sich mit ihr zu identifizieren, ist wichtig für ihr Überleben. Egal, ob aus einer Sprache oder in eine Sprache: Übersetzen ist immer ein Gewinn!


Johannes Kabatek ist ordentlicher Professor für Romanistik an der Universität Zürich. Er ist insbesondere auf iberoromanische Sprachwissenschaft spezialisiert und hat sich u.a. auch mit dem Galicischen, dem Katalanischen und dem Asturianischen beschäftigt. 


Interview: Steven Wyss, Übersetzerhaus Looren

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