«Wir sollten uns nicht als Opfer der Entwicklung sehen.»
Kann Literatur maschinell übersetzt werden? Und was kommt bei dem Versuch heraus? Das Experiment mit 14 Übersetzerinnen und Übersetzern im Rahmen des Projekts Kollektive Intelligenz machte die Probe aufs Exempel: Die Teilnehmenden mussten einen Sachtext und einen Ausschnitt eines Unterhaltungsromans mit Hilfe von DeepL übersetzen respektive bearbeiten. Die Ergebnisse sind überraschend.
Interview: Janine Messerli
André, du bist einer der Projektleiter von Kollektive Intelligenz. Ihr habt im Frühjahr 2023 ein Experiment mit 14 Übersetzerinnen und Übersetzern durchgeführt. Was hat euch veranlasst, dieses Experiment zu unternehmen?
Auf der Jahrestagung des VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke) 2022 in Wolfenbüttel kamen wir eher zufällig auf das Thema Übersetzungsmaschinen zu sprechen. Wir waren – etwas naiv – davon ausgegangen, dass Tools wie DeepL für das literarische Übersetzen noch keine grosse Bedeutung haben. Am Rande der Veranstaltung erzählten dann aber Mitglieder nach ein paar Gläsern Wein, dass sie schon mit DeepL gearbeitet hätten. Im Verband gab es jedoch keine Diskussion darüber, was wir unbefriedigend fanden. Wir wollten einen offenen Austausch anregen und herausfinden, ob sich DeepL für die Literaturübersetzung eignet, und wenn ja, was das für unseren Beruf bedeutet. Gibt es Dinge, die Übersetzerinnen und Übersetzer beachten müssen, wenn sie mit KI arbeiten möchten? Das waren die Grundfragen für unseren Versuchsaufbau.
Ihr habt für eure Untersuchung verschiedene Arbeitsabläufe mit KI-Unterstützung getestet. Kannst du diese kurz schildern?
Es gab in der Untersuchung verschiedene Möglichkeiten, mit KI zu arbeiten, sehr einfache und sehr komplexe. Das Vorgehen, das in der Praxis wahrscheinlich am häufigsten vorkommt, ist, den gesamten Text durch DeepL übersetzen zu lassen und diese Übersetzung dann unter Beizug des Originals zu bearbeiten. Ein weiterer Workflow war sehr komplex: Zuerst suchten wir wichtige Begriffe aus dem Originaltext heraus und übersetzten diese vorab. Mit dieser Terminologie fütterten wir dann ein spezialisiertes Übersetzungsprogramm, ein CAT-Tool (Computer Aided Translation Anm. d. Red.), und verwendeten dazu noch ein DeepL-Plugin. Ein anderer Workflow war, den ganzen Text maschinell übersetzen zu lassen und diesen Text dann zu bearbeiten, ohne aber das Original zu konsultieren.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse eures Experiments?
Da wir für diese Untersuchung nur mit 14 Personen gearbeitet haben, können wir keine quantitativen Aussagen machen, qualitative hingegen schon. Wir haben für unsere Untersuchung ein Vier-Augen-Prinzip angewendet: Die Teilnehmenden mussten ihre Erfahrungen und Ergebnisse in einem Bericht festhalten. Eine zweite Person hat diesen Bericht und den Prozess dann nochmals schriftlich kommentiert.
Zu den Ergebnissen: Wir haben klare Auswirkungen auf die Arbeitspsychologie festgestellt und drei Haupt-Effekte ausgemacht: Der erste ist der Priming Effect, also der Vorprägungs-Effekt. Das bedeutet, dass die maschinelle Übersetzung einige Dinge vorgibt oder prägt, zum Beispiel den Tonfall eines Textes. Auf diese Vorprägung reagierten die Teilnehmenden bei der Bearbeitung gegensätzlich: Die einen änderten zu wenig und liessen auch unpassende Formulierungen im Text stehen. Die anderen trauten der Maschine hingegen nicht und versuchten, sich möglichst stark von der Maschinenfassung zu distanzieren. Obwohl die vorhandene Übersetzung eigentlich in Ordnung war, suchten sie nach innovativeren Formulierungen, die aber nicht unbedingt richtig waren. Es handelt sich hier also um ein Überkorrigieren.
Was war der zweite Effekt?
Das zweite auffallende Ergebnis war der Fatigue Effect, der Ermüdungs-Effekt. Besonders bei der Nachbearbeitung maschineller Übersetzungen wurden die Teilnehmenden müde und konnten nicht mehr frisch an den Text herangehen. Sie wussten, dass die Maschine die Übersetzung nicht selbst durchdacht hat und dass sie diese deshalb nochmals sehr kritisch prüfen mussten. Und den Originaltext mussten sie natürlich auch noch im Blick behalten….
… das heisst, die Übersetzerinnen hatten dann zwei Texte, die sie berücksichtigen mussten, statt nur einen…
Genau. Eine maschinelle Übersetzung unterscheidet sich von einer menschengemachten Rohfassung, die durchdacht, aber vielleicht noch nicht perfekt ausformuliert ist. Bei Letzterer weiss ich, dass ich als Übersetzer nicht etwas komplett Kopfloses gemacht habe. Vielmehr treffe ich beim Erstellen der ersten Textfassung schon wichtige Entscheidungen, während die maschinelle Übersetzung mit jedem Satz von vorn anfängt. Deshalb bin ich bei der Nachbearbeitung viel schneller als beim Post-Editing der maschinellen Übersetzung. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob man schneller oder produktiver ist, wenn man DeepL im Übersetzungsprozess einsetzt.
Der Dritte Effekt hat gerade damit zu tun, oder?
Ja, das ist der Obstacle- oder Hindernis-Effekt. Das bedeutet, dass der maschinell vorübersetzte Text ein Hindernis darstellt. Wenn wir diesen Text ernst nehmen, stellt er sich gewissermassen vor das Original und wir kommen nicht mehr richtig an den Ursprungstext heran. Ausserdem gibt es auch Stolpersteine im Text selbst, erstaunlicherweise waren das zum Beispiel Umrechnungen von Masseinheiten. Es gab eine Textstelle im Original, wo von einer kleinen Gasse die Rede war, die «drei Fuss breit» war. Daraus machte DeepL in der Übersetzung dann «drei Meter», was natürlich etwas ganz anderes ist. Es wäre nützlich und zeitsparend, wenn DeepL solche eher mühsame Umrechnungen von Masseinheiten übernehmen könnte. Es hat uns erstaunt, dass DeepL gerade so etwas nicht zuverlässig kann.
Was war das Fazit eures Experiments zur Arbeit mit DeepL?
Das hing von der persönlichen Bewertung der Teilnehmenden ab. Es gab Übersetzerinnen und Übersetzer, die fanden, man könne mit DeepL durchaus arbeiten. Das sei eine Frage der Gewohnheit. Man müsse wissen, wofür man es einsetzen kann und welche möglichen Fehlerquellen es gibt. Aber insgesamt herrschte eine grosse Skepsis vor, ob eine Arbeit mit DeepL für das literarische Übersetzen wirklich hilfreich ist.
Wie war denn die persönliche Haltung der Übersetzerinnen und Übersetzer zur maschinengestützten Übersetzung?
Eine Voraussetzung für die Teilnahme an unserem Experiment war, dass die Übersetzerinnen und Übersetzer schon einmal mit DeepL gearbeitet hatten oder zumindest bereit waren, es auszuprobieren. Das heisst, die Teilnehmenden brachten schon mal eine gewisse Offenheit mit. Trotzdem gab es unterschiedliche Haltungen: Manche fürchteten, dass die maschinelle Übersetzung ihre Arbeit überflüssig macht. Andere erhofften sich, dass sie mit maschineller Unterstützung effizienter arbeiten könnten. Das hat sich, wie unsere Untersuchung gezeigt hat, dann aber als Illusion herausgestellt.
Gibt es denn überhaupt einen Vorteil des Einsatzes von KI beim literarischen Übersetzen?
Als wir die Ergebnisse unseres Experiments bei Veranstaltungen präsentierten, erhielten wir von Übersetzerinnen und Übersetzern die Rückmeldung, dass DeepL für ihre Arbeit durchaus nützlich sei. Sie würden es aber weniger systematisch anwenden als wir in der Untersuchung, sondern flexibler und pragmatischer. Ihr Vorgehen war so, dass sie parallel zur eigenen Übersetzung DeepL übersetzen liessen und nach den ersten Seiten prüften, wie brauchbar die maschinelle Übersetzung war und was sie sich davon herauspicken konnten. Wenn das Resultat überzeugte, machten sie so weiter, wenn nicht, verzichteten sie auf DeepL. Wir planen nun, mit solchen Nutzerinnen und Nutzern weitere Tests zu machen – vielleicht schon an der Leipziger Buchmesse im kommenden März. Ich denke, der Hauptunterschied liegt in der persönlichen Haltung und Arbeitsmethode: Diese Personen sehen in DeepL keine Konkurrenz zu ihrer Arbeit, sondern nutzen es einfach als Werkzeug oder Assistenten für ihre eigene Übersetzerstimme.
Für eurer Experiment habt ihr mit einem Sachtext und mit Unterhaltungsliteratur gearbeitet. Literarisch ausgefeiltere Texte sind jedoch vielschichtiger und komplexer. Sie bedienen sich vieler Gestaltungsmittel, die eine Übersetzungsmaschine nicht erfassen kann: bestimmte Tonalitäten, Figurenreden, Bezüge auf Realien, Zitate aus der Literatur- und Kulturgeschichte…
Wir haben uns bewusst dafür entschieden, mit Genres zu experimentieren, die nach landläufiger Meinung stärker durch Automatisierung bedroht sind. Allerdings bin ich kein grosser Freund der Hypothese, dass Unterhaltungsliteratur und Sachbücher leichter (maschinell) zu übersetzen wären. Wenn ein Unterhaltungsroman nicht den richtigen Ton trifft, funktioniert er nicht, wenn ein Sachbuch die etablierte Terminologie des Fachgebiets ignoriert, wird es nicht in dem Kontext rezipiert, für den es geschrieben wurde. Wenn man wollte, könnte man auch die Gegenthese aufstellen, dass literarische Texte, die ihre eigene Sprache erfinden und aufgrund ihrer Vielschichtigkeit einen breiten Interpretationsspielraum bieten, mehr valide Übersetzungsmöglichkeiten eröffnen und eine maschinelle Variante eher als akzeptabel erscheinen lassen. Ein Software-Programm, das mögliche intertextuelle Bezüge in einem Text markiert und vielleicht gleich Quellen angibt, wäre hingegen ganz allgemein eine Arbeitserleichterung. Ein Produkt dieser Art würde ich mir sehr wünschen.
Gerade bei Sachbuch-Verlagen gibt es heute die Praxis, Texte maschinell übersetzen zu lassen und Übersetzerinnen und Übersetzer nur noch für die Nachbearbeitung, das so genannte Post-Editing, zu engagieren – oft zu einem deutlich tieferen Tarif. Ist der VdÜ damit auch schon konfrontiert?
Ja, wir wissen, dass es einzelne Verlage gibt, die Post-Editing-Aufträge anbieten, und zwar nicht nur beim Sachbuch oder bei wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch bei Belletristik. Mir lag neulich der Vertrag einer Kollegin vor, in dem stand, dass die Editorin den maschinenübersetzten Text beurteilen und wo nötig, Änderungen vornehmen müsse. Bei Unklarheiten müsse auch auf das Original als Referenz zurückgegriffen werden. Diese Vorgaben deuten darauf hin, dass es nicht so darauf ankommt, wenn mal ein Übersetzungsfehler drin ist. Maschinelle Übersetzung mit Post-Editing ist also bereits Praxis. Sie sollte im Impressum aber deklariert werden: maschinelle Übersetzung durch den Verlag xy, Post-Editing von xy. Das wirft dann natürlich urheberrechtliche Fragen auf. Es gibt aber auch Verlage, die sich klar gegen den Einsatz von KI aussprechen. Das kann so weit gehen, dass im Vertrag steht, für die Übersetzung dürfe keine KI verwendet werden. Das ist sehr problematisch, denn bereits Windows und Word verwenden in vielen Einstellungen KI. Aber selbst wenn man diese Auflage pragmatisch auslegt, der Text soll nicht durch maschinelle Übersetzungssysteme übersetzt werden, dann ist das letztlich eine Einschränkung unserer Handlungsfreiheit. Es gibt Übersetzerinnen und Übersetzer, die gerne damit arbeiten und die dürfen das dann nicht. Das führt auch zu einer Kluft zwischen denen, die so genannt «hohe» Literatur übersetzen und denen, die Unterhaltungsliteratur oder eben alles andere übersetzen.
Wo positioniert sich der VdÜ in Bezug auf KI-gestützte Übersetzung?
Der VdÜ hat sich noch nicht positioniert, weil die Fragen komplex sind. An der nächsten Mitgliederversammlung im März werden wir über einen Antrag entscheiden, und dann wird sich eine Richtung herausschälen. Wir haben im VdÜ eine Arbeitsgruppe zu künstlicher Intelligenz mit Vertreterinnen verschiedener Gruppen geschaffen. Da gibt es unterschiedliche Haltungen: Die einen finden, KI ist grundsätzlich problematisch und darf in der Literaturübersetzung keinesfalls eingesetzt werden, weil sonst Wesentliches verloren geht. Andere sagen, das gehört heute zur Realität und wenn ich damit arbeiten möchte, dann will ich das selbst entscheiden.
Das KI-Thema ist komplex. Was ist aus Sicht des VdÜ das Wichtigste?
Aus Gewerkschaftssicht ist das Wichtigste: Wir wollen selbstbestimmt arbeiten, weil wir selbständig kreativ tätig sind. Es geht im weitesten Sinne um die Kunstfreiheit: Was wir als Übersetzerinnen und Übersetzer machen, ist eine Form der Kunst. Und wie wir zu unserem künstlerischen Ergebnis kommen, soll unsere Angelegenheit sein und nicht die des Verlags. Auch da gibt es unterschiedliche Haltungen, ob das Übersetzen eine künstlerische Tätigkeit ist, aber das deutsche Urheberrecht sieht es ganz klar so, dass wir urheberrechtlich geschützte Werke erstellen und damit gehören wir auch zum Bereich der Kunst.
Was sind die nächsten Schritte, die man unternehmen muss?
Gespräche mit der Verlagsseite sind wichtig: Wir müssen entscheiden, ob wir eine kollektive Vereinbarung mit dem Börsenverein oder dem Verlegerverband wollen, um Regeln festzulegen, wie KI eingesetzt werden soll. Es geht dabei auch um Transparenzregeln, dass Übersetzer und Verlage offen darüber reden und deklarieren, wie sie mit KI arbeiten.
Wichtig ist auch, dass wir die weitere Entwicklung der KI beobachten und prüfen, in welchen Bereichen der Einsatz sinnvoll und nützlich ist und wogegen wir uns aber auch wehren müssen. Es sollte nicht sein, dass die Verlage uns vorschreiben, wie wir zu arbeiten haben. Für unseren Berufsstand ist wichtig, dass wir die KI-Entwicklung aufmerksam verfolgen und diese nicht passiv der Industrie überlassen.
Der Umgang mit KI braucht ein gewisses Fachwissen, das sich Übersetzerinnen und Übersetzer zuerst aneignen müssen. Wie erreicht man diese selbstständige Berufsgruppe, die meist zuhause arbeitet?
Es war eine Absicht des Projekts, über die Einsatzmöglichkeiten und Probleme der KI aufzuklären. Wenn wir genügend Gelder finden, wollen wir das weiterführen. Wir machen Online-Seminare; beim deutschen Übersetzerfonds konnten wir zwei Webinare über unser Projekt durchführen. Aber es ist sehr schwer Leute zu erreichen, die nicht im Verband organisiert sind. Der VdÜ unterstützt Übersetzerinnen und Übersetzer auch beim Verhandeln mit den Verlagen. Was sind angemessene Honorare? Was sind die Mindestansätze, die eingehalten werden müssen? Das ist eigentlich die wichtigste Strategie für uns als Verband, dass Übersetzerinnen und Übersetzer bessere Bedingungen aushandeln können. Für den Umgang mit KI gilt das genauso.
Erwägt der VdÜ, einen Ratgeber zu machen für den Umgang mit KI? Eine Art Best Practice zum Verhandeln, zum Urheberrecht und zu Honoraren?
Ja, eine Best Practice wäre ein wichtiger Schritt. Die Honorarkommission des VdÜ überlegt, Richtlinien zu erstellen, wie man KI handhabt. Es gibt enorm viel zu tun und wir sind ein kleiner Verein mit begrenzten Möglichkeiten und ehrenamtlichem Engagement. Die wichtigsten Positionspapiere sind auf unserer VdÜ-Webseite im Bereich "Künstliche Intelligenz“ versammelt. (Link siehe unten) Da gibt es zum Beispiel die Empfehlung, die eigene Arbeit zu dokumentieren, indem man Zwischenversionen behält, falls der Vorwurf kommt, man hätte mit KI übersetzt, obwohl man es nicht gemacht hat. Beim Post-Editing empfiehlt die Honorarkommission nicht nach Seiten abzurechnen, sondern nach Stunden. Als Übersetzer weiss ich ja nicht, wie gut die Übersetzungsvorlage der KI ist und deshalb lässt sich schwer einschätzen, wie gross der Bearbeitungsaufwand ist. Von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gibt es ausserdem ein Positionspapier des Bereichs Kunst und Kultur, mit dem wir in vielen Bereichen übereinstimmen. (siehe unten)
Gibt es eine internationale Zusammenarbeit zum Umgang mit KI in Literaturübersetzung?
Es gibt einen informellen Austausch mit der IGÜ, der Interessengemeinschaft von Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer und wissenschaftlicher Werke. Dieser Berufsverband ist das österreichische Pendant zum VdÜ. Mit dem Verband A*dS, Autorinnen und Autoren der Schweiz, gab es einen Austausch zur aktuellen Studie, die wir im letzten Dezember am Übersetzersymposium in Zug präsentieren konnten. Dort hat der A*dS auch seine eigene Mitgliederumfrage zum Umgang mit KI vorgestellt. (siehe unten) Eine konkrete Zusammenarbeit bezüglich KI gibt es aber nicht, weil die Urheberrechte in der Schweiz anders geregelt sind als in der EU.
Wir haben über verschiedene Risiken und Chancen der KI-gestützten Literaturübersetzung gesprochen. Wo siehst du abschliessend die grössten Risiken und wo die grössten Chancen?
Das grösste Risiko ist, dass wir als Übersetzer unsere künstlerische Freiheit und unsere Entscheidungsfreiheit verlieren. Dass wir als kleines Rädchen im Getriebe eingesetzt werden und nur noch maschinengenerierte Übersetzungen nachbearbeiten. Dies würde unseren Beruf so stark verändern, dass viele damit unglücklich wären oder ihn nicht mehr würden ausüben wollen. Das Wichtigste scheint mir, dass wir weiterhin als kreativer Beruf wahrgenommen werden und das auch sind. Wenn wir einen Text von einer Sprache in eine andere übersetzen, erzeugen wir ein eigenständiges Werk. Das bedeutet auch, dass die Verlage uns keine Vorschriften machen dürfen, welcher Hilfsmittel wir uns dafür bedienen. Das wäre eine Einschränkung unserer beruflichen Freiheit. Weil die Verlage hier in einer machtvollen Position sind, müssen wir uns dagegen wehren.
Als grosse Chance sehe ich, dass man Open source-Ansätze unterstützen und eigene KI-Maschinen bauen kann, die idealerweise dem Kollektiv der Übersetzer gehören und zum Wohle des Berufsstands eingesetzt werden. Das ist natürlich etwas utopisch, aber wir sollten die Expertise, die wir auf unserem Gebiet haben, nutzen und versuchen, gemeinsam etwas zu entwickeln. So könnten Übersetzerinnen und Übersetzer selbstbestimmt arbeiten, ohne die erwähnten ethischen Probleme. Wir sollten uns nicht als Opfer der Entwicklung sehen und KI ablehnen, aus Angst, die Maschine könnte uns ersetzen, sondern uns fragen, wie wir sie als Mittel für den künstlerischen Ausdruck verwenden können. Das fände ich besser, als zu hoffen, wir könnten die Entwicklung noch ein paar Jahre aufhalten, dass sie nicht in unseren Beruf eindringt. Es ist eine Frage der Zeit, dass sich Arbeitsbedingungen ändern. Dafür brauchen wir aber andere Rahmenbedingungen.
André Hansen ist einer der Leiter des Projekts Kollektive Intelligenz und Beisitzer im Vorstand des VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke). Er hat an den Universitäten Mainz, Dijon und Bologna Romanistik und Komparatistik studiert. André Hansen übersetzt Belletristik und Sachliteratur aus dem Französischen, Englischen und Italienischen. Er engagiert sich ehrenamtlich als Beisitzer im Vorstand des Verbands deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ). Foto: Marcel Wolf
Bildlegende Hauptbild:
Dieses Bild wurde mit dem Computerprogramm DALL-E von OpenAI generiert. Das Programm nutzt künstliche neuronale Netzwerke, um aus Texten durch die Anordnung von Pixeln Bilder herzustellen. DALL-E ist ein Kofferwort aus dem kleinen animierten Roboter Wall-E (vgl. Film) und dem spanischen Surrealisten Salvador Dalì.
Weiterlesen:
Manifest für menschliche Sprache:
https://www.change.org/p/manif...
Umfrage des A*dS zur maschinellen Übersetzung von Literatur:
https://www.a-d-s.ch/uploads/m...
Informationen des VdÜ zur künstlichen Intelligenz beim literarischen Übersetzen:
https://literaturuebersetzer.d...
Webseite Kollektive Intelligenz: Übersetzungsmaschinen und Literatur
https://kollektive-intelligenz.de
Experiment: Kollektive Intelligenz: Kann KI Literatur?
https://kollektive-intelligenz.de/originals/kollektive-intelligenz-kann-ki-literatur/
Zwischen Wissenschaft und Technik: Die Rolle der Literaturübersetzerin
https://kollektive-intelligenz.de/originals/uebersetzung-wissenschaft-technik/
Stellungnahme des Verbands Autor*innen der Schweiz, A*dS zur textgenerierenden KI und Literaturübersetzung: Hintergründe und Handlungsempfehlungen
https://www.a-d-s.ch/uploads/media/default/432/Sonderrundbrief_d.pdf
Stellungnahme der Association des traducteurs littéaires de France ATLF:
Ver.di (Vereinte Dienstleistungsgesellschaft): Gute Arbeit in der Kultur stärken – auch beim Einsatz von generativer künstlicher Intelligenz
https://kunst-kultur.verdi.de/schwerpunkte/urheberrecht/++co++b00ebe84-4aff-11ee-b741-001a4a160100