4. Dezember 2017 – Gastbeitrag

Übersetzungen zum Sprechen bringen. Wie geben wir Einblick in die Übersetzerwerkstatt?

Vortrag von Annette Kopetzki, Literarische Übersetzerin, anlässlich des 9. Schweizer Symposiums für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer: Übersetzer auf die Bühne! am Samstag, 18. November 2017, im Jungen Literaturlabor in Zürich.

«Ohne Übersetzungen keine Weltliteratur, keine Lektüre fremdsprachiger Autoren. Diese Tatsache wird den meisten Lesern freilich erst dann bewusst, wenn sie in einer Buchhandlung nach Shakespeare oder Flaubert, Dante oder Dostojewski suchen und von der Buchhändlerin gefragt werden, in welcher Übersetzung sie das Werk denn gerne hätten. Bei dieser ersten Konfrontation der Leser mit der Relativität von Übersetzungen können wir beginnen, wenn wir über unsere Arbeit sprechen. Dabei geht es zunächst um die scheinbar einfachste, in Wirklichkeit aber schwierigste Frage: Was ist eigentlich eine Übersetzung? 

Wenn Klassiker immer wieder neu übersetzt werden und die jüngste Übersetzung oft gelobt wird, sie sei philologisch genauer, sprachlich zeitgemäßer und stilistisch gewandter, dann scheinen Übersetzungen zu altern. Und wenn es mehrere Übersetzungen eines Romans, Gedichts oder Dramas geben kann, ist die Übersetzung offenbar etwas anderes als das Original. Das ist nicht so trivial, wie es klingt. Denn was unterscheidet sie vom Original? Ist sie eine Interpretation des Originals, sein Abbild in einer anderen Sprache oder ein Dokument seiner Wirkung? Sie ist das und etwas ganz anderes. Schon sind wir mittendrin in den Paradoxien des literarischen Übersetzens. Aber gerade mit ihrer Hilfe können wir erklären, was wir beim Übersetzen tun und warum das Übersetzen eine exakte Kunst ist. 

Bevor ich beschreibe, wie Übersetzer ihre kreative Arbeit dem Publikum nahebringen können, muss ich etwas ausholen, weil ich denke, dass bestimmte grundlegende Aussagen über die Sprache sehr wichtig sind, wenn man verstehen will, was das literarische Übersetzen zu einer künstlerischen Arbeit macht. Als «unendliche Aufgabe», und als «unendlicher Text» wurde die Übersetzung bezeichnet. Denn in ihr potenziert sich noch einmal, was Sprache allgemein, besonders aber die ästhetische Sprache der Literatur kennzeichnet: Die Wirklichkeit ist uns nur vermittelt, durch die symbolische Struktur der Sprache, gegeben, und für den Einzelnen ist schon jedes Wortes der Alltagssprache von eigenen, subjektiven Erfahrungen geprägt. Sprache ist das «individuelle Allgemeine». Literatur wiederum erschafft durch Sprache eine eigene, fiktive Wirklichkeit. Auf diese gestaltete Imagination reagiert jeder Leser anders, jeder reichert sie mit eigenen Vorstellungen an, und er wird sie Jahre später wieder mit anderen Augen lesen. So entsteht jenes weite Bedeutungsspektrum literarischer Texte, das sie auslegungsfähig und -bedürftig macht. 

In der Übersetzung wird die schöpferische Kraft der Sprache allgemein und besonders der literarischen Sprache nun noch einmal gesteigert. Denn gerade weil Sprechen und Verstehen zuinnerst individuell sind, also auch die Kulturen als sprachlich verfasste Lebenswelten einander übersetzen müssen, um sich zu verständigen, kann die Übersetzung das Original nicht einfach exportieren, spiegeln, hinüberführen, decodieren, und was der wohlfeilen Metaphern fürs Übersetzen mehr sind. Es ist paradoxerweise gerade die Unübersetzbarkeit im Sinne der Nicht-Ersetzbarkeit, die Differenz, der Abstand zwischen den Sprachen, was Übersetzung zu einer exakten Kunst macht. 

Zurück zur Frage, was eine Übersetzung ist: Wenn sie keine getreue Kopie des Originals sein kann, ist sie dann seine Interpretation oder ein Ausdruck seiner Wirkung? Jede Übersetzung beginnt mit einer sehr gründlichen semantischen und stilistischen Interpretation des Originals. Doch sie ist nur die Leiter, die der Übersetzer umstürzt, sobald er in den Text eingedrungen ist. Ab jetzt brauchen wir viel Mut, eine weitgefächerte Beherrschung der Muttersprache und ihren kreativen Gebrauch. Übersetzer müssen ihre Lesart des Originals mit denselben Mitteln gestalten, die der Autor des Originals verwendet hat. Denn in einem literarischen Text kann das, was er ausdrückt, nicht vom Wie, der sprachlich-stilistischen Form dieses Ausdrucks getrennt werden. Was der Text bedeutet, lässt sich durch keine Paraphrase erfassen. Dies ist die Grenze der Gleichung zwischen Übersetzen und Interpretieren. Übersetzung erklärt das Original nicht, sie ist Nachahmung, schöpferische Mimesis, einfühlende Imitation. 

Wenn wir das Übersetzen mit anderen Formen künstlerischer Bearbeitung vergleichen, also mit der Interpretation einer Partitur durch den Musiker oder Inszenierungen eines Theaterstücks, wird deutlich, was das Übersetzen als ästhetische Praxis auszeichnet. Eine Übersetzung arbeitet im selben künstlerischen Medium wie ihre Vorlage, Werktreue bedeutet bei ihr etwas anderes als bei Ausdeutungen von Partituren oder Dramentexten. Während diese mitunter auch in dezidierten Gegensatz zu ihrer Vorlage treten können, versteht sich die Übersetzung als eine Nachschöpfung des Originals, die dessen Formgesetzen folgt. Gemeinsam ist all diesen Formen der Interpretation aber, dass sie durch kreative Aneignung ein neues Werk schaffen. Es verbindet ein historisch fernes Original mit dem Verstehenshorizont des heutigen Publikums, und als Übersetzung bereichert es die Literatur um Texte anderer Kulturen. Dadurch leben die Originalwerke weiter, das Spektrum ihrer Bedeutungen wird vergrößert, aber nie ausgeschöpft. In diesem Sinne ist die Übersetzung ein Ausdruck der Wirkung des Originals, und sie entfaltet als ein «unendlicher Text» zugleich sein Sinnpotential – ein niemals abgeschlossener Prozess. Damit wirken Übersetzungen auf das Original zurück, weil sie es um neue Bedeutungen bereichern. Durch die Übersetzung entsteht ein neues, eigenständiges Kunstwerk, darum fordert die literaturwissenschaftliche Übersetzungstheorie, die Übersetzung als literarische Gattung anzuerkennen.

Häufig wird nach Übersetzungslesungen gefragt, ob man denn eher treu oder eher frei übersetzt habe. Diese Dichotomie ist ebenso alt wie unausrottbar wie falsch. Seit Ciceros Alternative, entweder als Redner oder als Dolmetscher, also wirkungsmächtig kreativ oder buchstabengetreu zu übertragen, hat das theoretische Nachdenken über Übersetzung sich in dualen Modellen bewegt: Geist oder Buchstabe, Nachahmung oder Paraphrase, philologisch oder poetisch, verfremdend oder einbürgernd, hässlich und treu oder schön und untreu. Kein Übersetzer würde seine Arbeit in diesen groben Begrifflichkeiten beschreiben. Daran sieht man, wie weit die Theorie sich von der Praxis entfernt hat. Denn auch die Versuche der jüngsten Übersetzungstheorie, den Grad der Äquivalenz zwischen Original und Übersetzung in verschiedenen Übersetzungstypologien zu bestimmen, auch sie kommen von starren Entgegensetzungen nicht los: semantisches versus kommunikatives Übersetzen, dokumentarisch versus instrumentell, Aktualisierung versus Historisierung. Merkwürdig, wie beharrlich sich diese Dualismen halten. Dabei wurde doch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erkannt, dass Sprache immer historisch und kulturell geprägt ist, und diese Erkenntnis führte dazu, alles Verstehen als Übersetzen und die Übersetzungsarbeit als ein aktives Bewegen beider Sprachen, als schöpferische Erweiterung der Nationalsprache zu begreifen. Damals waren die Theoretiker näher an der übersetzenden Praxis. Übersetzung soll, so Friedrich Schleiermacher, die Fremdheit des Originals nicht eindeutschen, sondern auf den unüberbrückbaren Abstand zwischen Sprachen, Epochen und Kulturen verweisen, indem sie «ahnen lässt, dass sie zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei.» Über Jahrhunderte hinweg schlägt Schleiermachers Diktum von der Übersetzung als «Ausbildung von Verschiedenheit» eine Brücke zur jüngsten, kulturwissenschaftlichen Definition des Übersetzens als «Repräsentation fremder Kulturen». 

Doch was seit der frühromantischen Poetik des Übersetzens aus dem Blick geriet, ist das Wesen der Literaturübersetzung als künstlerische Tätigkeit. Wer Übersetzen als «Aushandeln kultureller Differenzen» versteht, löst die Übersetzung als literarisches Werk auf. Denn Übersetzer müssen ja einen Text gestalten, der kulturelle Differenz in eine bestimmte Form kleidet – sich also für eine Lösung entscheiden. Das klingt banal, ist aber eine der größten Schwierigkeiten beim Übersetzen besonders von Texten aus fernen Kulturen mit Realien ohne Entsprechung im Deutschen. Das Spektrum der Realien ist weit, reicht von Gebräuchen, Speisen und Spielen bis zu Dienstgraden und Institutionen. In älteren Übersetzungen gab es Glossare, heute werden Realien im Übersetzungstext selbst erklärt oder direkt übernommen. Dadurch haben viele Eingang ins Deutsche gefunden: Spleen, Sauna, Cappuccino. Vor kurzem erschien ein Buch mit unübersetzbaren Wörtern aus der ganzen Welt, es zeigt anschaulich, wie sich kulturelle Eigenheiten in der Sprache niederschlagen: «Tsundoku» japanisch, bedeutet «ein gekauftes Buch ungelesen lassen», «Pisan Zapra» ist Malaiisch für «die Zeit, die man braucht, um eine Banane zu essen», «Gurfa» sagen die Araber für «die Menge Wasser, die man in einer Hand halten kann». Das Bemühen der Übersetzer, deutschen Lesern die fremde Kultur möglichst authentisch nahezubringen, wird manchmal von Strategien der Verlage erschwert. «Übersetzte arabische Literatur soll immer die arabische Kultur erklären», klagte eine Übersetzerin. Oft erscheinen schon auf dem Buchcover kulturelle Klischees, um vermeintliche Lesererwartungen zu erfüllen. Das Gegenteil dieser Selbst-Ethnisierung, die Fremdheit ausgerechnet mit Stereotypen betont, ist die Einbürgerung, die kulturelle Andersheit einfach aufhebt. Die deutsche Ausgabe von Elena Ferrantes in 40 Sprachen übersetzter Genialer Freundin zeigt zwei Frauen vor dem Vesuv, auf dem brasilianischen Cover tummeln sich Mädchen in knappen Bikinis am Strand, und die chinesische Übersetzung illustriert eine asiatische Schönheit. Auf Cover und Titel haben Übersetzer leider keinen Einfluss, auch das muss bei Übersetzungslesungen oft erklärt werden. 

Aber Literaturübersetzer kennen noch etwas anderes als die kulturelle Differenz von Texten. Außer kultureller Fremdheit gibt es immer auch eine ästhetische Fremdheit, also den individuellen Stil literarischer Texte, der sprachliche Konventionen eigensinnig gebraucht, ja, durchbricht. Dieses ästhetische Moment ist den Texten unterschiedlichster Kulturen gemeinsam. Jedes einzelne Werk erschafft sich seine stilistischen Gesetze selbst. Darum gibt es auch für seine Übersetzung keine allgemeinen Regeln. Literaturübersetzer müssen für jedes Original immer wieder neue, eigene Strategien finden. Ihre Lösungen lassen sich nie zu Patentrezepten systematisieren, sondern können nur anhand konkreter Beispiele aus einem bestimmten Werk dargestellt und erklärt werden. «Es gibt keine Methode des Übersetzens (…), jede Methode gilt gerade für das Exempel, das sie beweisen will.» Diese zentrale Aussage über die literarische Übersetzung stammt von dem Anglisten und Übersetzer Klaus Reichert. Sie betrifft den Kunstaspekt der Übersetzung, und ich möchte sie an einem bei Übersetzern und Theoretikern beliebten, aber problematischen Begriff illustrieren: der Wirkungsäquivalenz. 

Eine Übersetzung soll auf ihre Leser möglichst die gleiche Wirkung ausüben wie jene, die der Autor des Originals beabsichtigt hatte. Während diese äquivalente Wirkung in der Theorie aber normativ, als Handlungsanweisung verstanden wird, ist sie für Übersetzer eher ein utopisches Ziel, ein Hilfsbegriff. Wir kennen zwar den kulturellen Kontext des Originals, können aber nur vermuten, wie es auf seine Leser gewirkt hat. Und auch das wäre eine unzulässige Verallgemeinerung, denn jeder Leser wird es anders aufgenommen haben. Wie auch jeder Übersetzer. Zwischen diesen Hypothesen über die Wirkung des Textes auf die Leser des Originals und der eigenen, subjektiven Lesart bewegt sich die übersetzerische Arbeit. «Rezipientenkalkül» und «Einfühlungsvermögen» nennt das Rainer Kohlmayer, einer der wenigen Theoretiker, die sich konsequent an Aussagen von Übersetzern orientieren und damit die ästhetische Leerstelle der Theorie füllen. 

Wenn Übersetzer beschreiben, wie sie eine bestimmte Konzeption für ihre Übersetzung gebildet haben, greifen sie zu Wendungen, die sich in keiner theoretischen Abhandlung finden: «Stimmen hören», «dem Rhythmus nachspüren», «sich in die stilistischen Register der Sprecher einfühlen», «den Ton des Werks treffen». Übersetzen ist eine sinnliche Tätigkeit. Ohne die Fähigkeit zur Empathie würde sie scheitern. Intuition und Inspiration sind genauso wichtig wie gründlichste Recherchen. Ästhetischer Sinn und Geschmacksfragen, also das vielbeschworene Sprachgefühl, leiten die Übersetzungsarbeit. Dadurch wird sie aber nicht zu einer eigentlich unbeschreiblichen, auf idiosynkratischem Bauchgefühl oder auf glücklichen Eingebungen beruhenden Tätigkeit. Das Gegenteil ist richtig, und wer das Übersetzen so beschreibt, erweist der Aufklärung über unsere Arbeit einen schlechten Dienst. 

Übersetzen ist eben darum eine «exakte Kunst», weil wir anhand konkreter Beispiele aus unserer Übersetzung eines bestimmten Werks zeigen können, auf welcher Strategie diese oder jene Lösung beruhte. Übersetzernachworte, eine leider noch zu selten genutzte Möglichkeit der Übersetzer, sich und ihre Arbeit sichtbar zu machen, bieten anschauliches Material für die vielfältigen Entscheidungen, die im Übersetzungsprozess getroffen werden müssen. Einige Beispiele: Dagmar Ploetz, die Garcia Marquez weltberühmten Roman Hundert Jahre Einsamkeit neu übersetzte, hat die unterschiedlichen Tonlagen des Romans stärker herausgearbeitet. Sie sagt: «Die Begeisterung für das Neue, Besondere, das der Übersetzer im Werk entdeckt, kann ihn dazu verführen, das Farbige noch farbiger auszumalen, exotische Anmutungen in den Vordergrund zu rücken. Mein Vorsatz war, den unterschiedlichen Stilebenen des Romans und der durchaus auch vorhandenen Nüchternheit und Lakonik gerecht zu werden. Curt Meyer-Clason schrieb ein sehr reiches Deutsch, das sich noch sämtlicher Register des Romans aus dem 19. Jahrhundert bediente. Eine stilistische Prägung, die dazu führt, dass seine Übersetzung für das heutige Ohr streckenweise ein wenig altertümlich klingt.» Hier haben wir ein Beispiel für das Altern von Übersetzungen. Nun drei Beispiele, die zeigen, wie unterschiedlich Übersetzer mit dem Problem von Dialekt oder Soziolekt im Original umgehen: Moshe Kahn über seine Übersetzung von Pasolinis Ragazzi di vita: «Ziemlich bald wurde mir klar, dass der Umgang mit einem deutschen Dialekt – das Berlinerische hatte sich für eine deutsche Entsprechung des Römischen verführerisch aufgedrängt – ausgeschlossen werden musste. Gefragt war ein allgemeinverständlicher Jargon, der dem Text das ‚Römische‘ belässt. So entwickelte ich Sprechweisen, die zwar keiner gängigen deutschen Ausdrucksweise entsprechen, aber durchaus dazu werden könnten.» Peter Sacher übersetzte Jáchym Topols Engel Exit: «Um die ideell-ästhetische Funktion der ‚Hässlichkeit‘ und ‚Natürlichkeit‘ der Originalsprache zu erhalten, habe ich mich entschieden, das Allgemeintschechische durch einen deutschen Großstadtdialekt zu ersetzen, das Berlinische.» Ulrich Blumenbach über seine deutsche Fassung von David Foster Wallaces Unendlicher Spaß: «Black American English ist eine Varietät der englischen Sprache, vor der man als Übersetzer fast nur kapitulieren kann. Man muss sich davor hüten, es als eine Art Gastarbeiterdeutsch zu übersetzen, wie das früher praktiziert worden ist. Ich habe mich dafür entschieden, grammatische Fehler, Umgangssprache und Ruhrgebietsdeutsch zu mischen.» Das letzte Beispiel zeigt, dass die abstrakten theoretischen Begriffe Aktualisierung versus Historisierung keine praktikable Alternative darstellen. Hinrich Schmidt-Henkel übersetzte Célines Reise ans Ende der Nacht: «Für mich kam nicht infrage, eine historisierende 1932er Schreibe à la Céline zu konstruieren. Andererseits verbot sich von selbst, den Text etwa ins Jahr 2000 zu transportieren. Mein Ziel war ein zeitlich möglichst nicht festzulegender Stil.» 

Stellen wir uns vor, das Publikum würde nach diesen recht apodiktisch klingenden Aussagen fragen, warum man sich vor Gastarbeiterdeutsch hüten muss oder es sich verbietet, Céline ins Jahr 2000 zu transportieren. Mit diesen Fragen können interessante Diskussionen beginnen, hier bietet sich uns die Chance, den Lesern einiges über das Wesen der Literaturübersetzung zu offenbaren. Und sie sind eine gute Übung darin, unsere Entscheidungen zu rechtfertigen. Denn es gibt natürlich keine «richtige», wohl aber bessere oder weniger gelungene Übersetzungen, und darum ist es so wichtig, dass wir lernen, unsere Arbeit methodisch zu reflektieren, dass wir uns intuitive Verfahrensweisen und Strategien bewusst machen und in Begriffe fassen. 

Ich gebe ein paar Beispiele für Probleme, die zur Sprache kommen können, wenn Übersetzer auf der Bühne stehen. Manche davon gehören zum Handwerk, andere zu den individuellen, kreativen Einzelfallentscheidungen: Wie gehen wir mit den unterschiedlichen Tempussystemen der Sprachen um? Was machen wir, um die Mehrdeutigkeit von Worten im Original zu erhalten? Wie markieren wir den Wechsel zwischen Nähe oder Distanz des Erzählers zu seinen Figuren, und warum können uns die beiden Konjunktivformen des Deutschen dabei helfen? Wie vermeiden wir die in manchen Sprachen unauffälligen, im Deutschen aber sperrigen Infinitivkonstruktionen? Warum entscheiden wir uns manchmal dafür, dialektale Passagen original wiederzugeben? Wann lassen wir fremde Realien unübersetzt, wann suchen wir nach deutschen Äquivalenten? Drei der vielen möglichen Fallen im Original, auf die wir achten müssen: versteckte Zitate, falsche Freunde und Wendungen, die wie kühne Metaphern aussehen, aber alltagssprachliche Idiomatik sind. Was machen wir mit Wortspielen, die sich gegen jede Übertragung sperren? Auf das Wortspiel verzichten? Können wir das an anderer Stelle durch eine kreative Lösung wettmachen? Wann und wie setzen wir ein paar «Marker», um einer Übersetzung historische Patina zu verleihen? Auch die Interpunktion des Originals müssen wir übersetzen, denn die Funktion von Gedankenstrichen, Semikola und Auslassungspunkten unterscheidet sich in den Sprachen, und oft ist die Interpunktion ein Stilmittel der Vorlage. Was bedeutet es eigentlich, wenn Übersetzer sagen, man müsse das Original auseinandernehmen und neu wieder zusammensetzen? Mit welchen Mitteln können wir unsere Übersetzung «zu einer fremden Ähnlichkeit hinüberbiegen»? Versetzen wir das Deutsche in Bewegung, durchbrechen konventionelle Sprachmuster, erfinden neue Wörter, schütteln die Syntax durcheinander? Wie bewahren wir im Deutschen das italienische, irische, französische, russische Lokalkolorit der Originale? Anglizismen sind in alle Sprachen eingedrungen und haben in jeder einen anderen Stellenwert – wie setzen wir sie in unserer Übertragung ein? Beschimpfungen, Flüche und Humor sind sehr kulturspezifisch – wann und warum belassen wir sie als fremde Akzente oder suchen nach deutschen Entsprechungen? Und last, but not least: Welche Konflikte werden im Gespräch mit dem Lektor ausgetragen? In jeder einzelnen Übersetzung gilt es sehr viele und sehr unterschiedliche Entscheidungen zu treffen. 

Je mehr dieser besonderen Übersetzungsprobleme und Lösungsmöglichkeiten wir darstellen, desto tiefere Einsichten in die komplexe Tätigkeit des Übersetzens können wir bieten. Und nebenbei: Wenn wir die Präsentation unseres Übersetzungskonzepts – z.B. bei einer Neuübersetzung die stilistischen Ecken und Kanten der historischen Vorlage nicht mehr glätten, sondern zu bewahren – reich mit Beispielen ausstatten, wird auch die Literaturkritik davon profitieren. Statt nur Übersetzungsfehler aufzuzählen, wird sie ihre Rezension daran orientieren, was der Übersetzer bezwecken und bewirken wollte, und welche Mittel er dafür eingesetzt hat. 

Eine ganz auf Erfahrungsberichte aus der Übersetzerwerkstatt zugeschnittene Theorie sind die «22 Theses on Translation» des amerikanischen Theoretikers Douglas Robinson. Einzelfallgeschichten aus der Praxis nennt er die «anekdotische Tradition», sie sind für ihn die Quelle und Quintessenz aller allgemeinen Aussagen über Übersetzung. «Übersetzungstheorie war von Anfang an zuinnerst anekdotisch», schreibt er. «Theoretische Aussagen über das Übersetzen stammten bis vor einigen Jahrzehnten fast ausschließlich aus der besonderen Arbeit der Übersetzer an bestimmten Texten.» Anekdotisch meint hier konkrete Beispiele aus der Praxis. Oft können Übersetzer aber auch richtige Anekdoten erzählen, vor allem wenn sie von ihrer Recherchearbeit berichten. Da hört das Publikum von Übersetzungslesungen immer besonders interessiert zu und erfährt nebenbei, wie intensiv wir eine Übersetzung vorbereiten müssen. In den Ateliers dieses Symposions wird es sicherlich darum gehen, wie bühnenwirksam die verschlungenen Wege eines Textes von einer Kultur und Sprache in die andere sich darstellen lassen. 

Manche, nicht alle der hier skizzierten theoretischen Gedanken zur Übersetzung können bei unseren Auftritten für das Publikum fassbar werden. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, wie alles, was ich ausgeführt habe, auf diesen wichtigen Punkt hinausläuft: Jedes literarische Kunstwerk hat eine eigengesetzliche stilistische Gestalt, an der sich die Übersetzung in ihrer Deutung und Neuschöpfung mit ebenso individuell gewählten Mitteln orientiert. Darum können wir unsere Übersetzungen nur zum Sprechen bringen, wenn wir unsere subjektive Lesart des Originals und unsere Übersetzungskonzeption anhand konkreter Lösungen illustrieren. Sie sind das Pfund, mit dem wir als Übersetzer wuchern können. Denn auf der Bühne vertreten wir nicht den Autor und das Original. Wir vertreten uns selbst als Urheber der Übersetzung, wir vertreten unsere Auslegung und schöpferische Gestaltung des Originals, die es zu einem neuen literarischen Werk gemacht hat. Damit repräsentieren wir freilich auch die Bedeutungsfülle und Wirkungsmacht der Literatur.»

Foto: AdS

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