31 octobre 2017 – Entretien

«Wenn ich noch etwas erlernen könnte, dann wäre es die Psychoanalyse.»

Interview mit Maja Badridse, Übersetzerin aus Tiflis

Maja Badridse war vor zwölf Jahren der allererste Gast im Übersetzerhaus Looren. Im Oktober war sie mit einem Schriftzüge-Stipendium zum vierten Mal hier. Sie erzählt, weshalb Sigmund Freud für das georgische Lesepublikum so wichtig ist und was an der Schweiz und an Looren einzigartig ist. 

Maja, was übersetzt du gerade?
Ich arbeite an der Übertragung von Sigmund Freuds Totem und Tabu. Ich bin fast fertig mit der Überarbeitung.

Wird Freud damit zum ersten Mal auf Georgisch übersetzt?
Nein, es wurden bereits früher ein paar wenige Artikel von ihm übersetzt. Aber die wichtigen Werke Totem und Tabu, Das Unbehagen in der Kultur, Die Zukunft einer Illusion und Jenseits des Lustprinzips noch nicht. Sie behandeln den Ursprung von Religion und Sittlichkeit und den Antagonismus zwischen Triebforderungen und den Einschränkungen, welche die Zivilisation auferlegt. Sigmund Freud war natürlich auch in Georgien schon bekannt, aber er wurde hauptsächlich im deutschen Original und in der englischen Übersetzung gelesen. Es ist sehr wichtig, dass ihn die Georgier nun in ihrer eigenen Sprache lesen können. 

Warum soll ein georgisches Lesepublikum heute noch Freud lesen?
In der Sowjetperiode galt Sigmund Freud als unerwünschter Autor – und das war kein Zufall. Freud bewegt dazu, die tiefsten Motive des menschlichen Handelns und Verhaltens zu erforschen. Mit der Psychoanalyse kommt man sich selbst näher und kann sich in der Welt besser orientieren. Man wird unabhängiger und ist imstande, persönliche Entscheidungen zu treffen. Der Totalitarismus fühlte sich davon bedroht und beseitigte diese Gefahr durch das Verbot. Er betrachtete die Psychoanalyse als entartete Denkweise und erklärte sich selbst zur einzigen Wahrheit. Es hat auch persönliche Gründe, dass ich Freud übersetze. Im Sowjetsystem gab es Fragen, die nicht gestellt werden durften oder nicht beantwortet wurden. Zum Beispiel die Frage nach dem Grund der Dinge. Diese Frage beschäftigte mich. Manchmal waren es auch Fragen, die ich nicht direkt formulieren konnte. Ich merkte einfach, etwas ist nicht so, wie es mir beigebracht wurde. Das Schweigen in der Familie, der ideologische Druck. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich auf Freud gestossen bin.

«Der Totalitarismus betrachtete die Psychoanalyse als entartete Denkweise.»


Wann war deine erste Begegnung mit Freuds Werk?
Als Studentin mit 19 oder 20 Jahren. Das war wirklich eine Entdeckung. An der Uni ist mir ein Licht aufgegangen! Diese Texte gaben mir die Möglichkeit, mich selbst zu erkennen, meinen Schatten. Erst später kam dann die Idee, Freud zu übersetzen. Die Übersetzung von Freud und C.G. Jung ist ein Ausdruck meiner Dankbarkeit. Diese Denker haben mir Halt gegeben.

War diese Erfahrung des Totalitarismus – auch wenn sie niemandem zu wünschen ist – auch eine Motivation für eine kritische Auseinandersetzung mit sich und der Welt?
Der georgische Philosoph Merab Mamardaschwili sagte: Es braucht diese negative Erfahrung nicht. Du kannst das als Schweizerin nicht nachvollziehen. Die Schweiz unterscheidet sich diesbezüglich von allen anderen Ländern. Es hat lange gedauert, bis mir das klar wurde: Die Schweiz ist ein Land ohne Trauma. Alle anderen Länder, die ich kenne, haben diese kollektiven traumatischen Erfahrungen....

Wie ist das heute bei der jungen Generation in Georgien?
Die Sowjetunion ist aufgelöst, aber die Mentalität bleibt. Weil die Menschen so lange unterdrückt wurden, haben sie panische Angst vor der Freiheit. Es war strafbar, ein Individuum zu sein, selbst zu entscheiden. Und dabei waren wir damals unter den Sowjets noch freier als andere es waren. Ich sage manchmal: Wir sind das verspätete Volk. Wir werden als moderne Nation und Bürger erst geboren.

«Weil die Menschen in Georgien so lange unterdrückt wurden, haben sie panische Angst vor der Freiheit.»


An wen richtet sich deine Freud-Übersetzung?
Das Zielpublikum ist sehr breit. Ich möchte Freud einer breiteren Leserschaft, auch einem Laienpublikum, zugänglich machen. Freud gehört zum Kulturgut.

Die Originaltexte stammen von 1910/1912. Das ist ein altes Deutsch. Welches sprachliche Register wählst du für deine Übersetzung?
Ich wähle keine alte Sprache, das würde eine Entfremdung bewirken. Ich modernisiere Freud aber auch nicht, sondern suche einen neutralen Ton. Für die Fachterminologie habe ich mich anfangs mit Fachleuten der Psychologie aus Georgien ausgetauscht. Die psychoanalytischen Wörterbücher haben mir sehr geholfen.

Hast du selbst eine Psychoanalyse gemacht?
Nein. Wo auch?! Wenn ich aber noch etwas erlernen könnte, dann wäre es die Psychoanalyse. Doch ich bin Übersetzerin und identifiziere mich total mit diesem Beruf.

Die meisten Literaturübersetzer üben nebenbei noch weitere Tätigkeiten aus. Wie ist das bei dir?
Ich bin hauptsächlich Übersetzerin, aber ich gebe privat Deutschunterricht und arbeite als Lektorin für den georgischen Diogene-Verlag, in dem auch meine Bücher erscheinen. Vom Übersetzen allein kann ich nicht leben – das Geld erhält man ja erst, wenn das Buch fertig ist. Meine Arbeit an Roberts Musils Mann ohne Eigenschaften dauerte sieben Jahre! Ein endloses Buch. Ein genialer Text, aber unglaublich kompliziert. Mein Verleger wollte, dass ich und niemand sonst dieses Buch übersetzt. Es ist eine riesige Verantwortung, diesen Text ins Georgische einzuführen. Wie sollte ich das schaffen? Aber es war zu spät, ich konnte nicht mehr zurück. Meine deutschen Kollegen machten sich über mich lustig, weil ich über Jahre mit diesem Text auftauchte. Es war ein Kampf. Die Übersetzung wurde dann mit dem Galla-Literaturpreis ausgezeichnet, worauf ich sehr stolz bin.

Du warst im Jahr 2006 das erste Mal im Übersetzerhaus Looren….
Ich war der erste Gast! Gabi, die Geschäftsleiterin, und ich waren nur zu zweit. Hier in diesem Salon sass ich ganz für mich…  Es war ein komisches Gefühl, nachts allein in diesem Riesenhaus zu sein… Ich hatte von einer Schweizer Freundin, die nun in Tiflis lebt, vom Übersetzerhaus Looren erfahren.

Hat dich etwas hier in Looren überrascht?
Die Landschaft. Du bist nicht nahe dran, du bist drin! Ich schlafe quasi auf der Alpwiese. Morgens mache ich als erstes die Gardinen auf und sehe den Himmel. Es ist eine Wiederentdeckung der Natur für mich. Und es gibt etwas, das habe ich nirgends sonst gesehen: Wenn man Spazieren geht, dann steht da manchmal zwischen Feld und Wald eine Kiste mit Äpfeln. Und darin ein kleines Kästchen fürs Geld. Das legst du da hinein und gehst dann mit deinem Apfel deines Weges. Du kaufst direkt bei der Natur ein: bei den Wiesen, Bäumen und Wäldern. Das habe ich noch nirgends gesehen!

Maja Badridse ist freischaffende Übersetzerin und lebt in Tiflis, Georgien. Sie hat westeuropäische Sprachen und Literatur mit Schwerpunkt Übersetzertätigkeit studiert und übersetzt aus dem Deutschen ins Georgische. Seit 2000 ist sie als literarische Übersetzerin und Lektorin für den Diogene-Verlag in Tiflis tätig. Sie hat Werke von C.G. Jung, Hermann Broch, Robert Musil, Berthold Brecht und W.G. Sebald in georgischer Übersetzung publiziert. Als Schriftzüge-Stipendiatin hat sie einen Monat im Übersetzerhaus Looren an der Übertragung von Sigmund Freuds Totem und Tabu gearbeitet.

Herzlichen Dank für das Gespräch. 
Interview und Fotos: Janine Messerli, Übersetzerhaus Looren

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